Aus dem Tagebuch einer Betroffenen, 28. Januar 2009

Liebes Tagebuch,
eigentlich wollte ich dir ja heute von dem Kaffeetrinken mit Herrn M. berichten,
aber das, was mir davor passiert ist, erscheint mir doch sehr viel spannender. Als ich heute aus der U-Bahn kam (Nähe Berliner Straße), war dort eine Kleine im Rollstuhl mit ihrer Betreuerin. Sie hatten auf den Fahrstuhlknopf gedrückt und warteten. Das Mädchen hatte die Hände nach hinten gestreckt. Ich sag dir, liebes Tagebuch, sie muss unglaubliche Schmerzen ausgehalten haben, die Kleine, und gelächelt hat sie auch noch. Ich bin zu ihr und habe sie beobachtet. Eigentlich wollte
ich ihr ja ein bisschen Geld geben, ein, zwei Euro, aber dann wollte ich sie erstmal ein bisschen beobachten. Schließlich habe ich ihr gesagt, dass ich das unglaublich tapfer finde, dass sie so in ihrer Situation auf der Straße herumfährt. Und weißt du liebes Tagebuch, was diese kleine Rollstuhlfahrerin gemacht hat? Sie hat gelacht und dann meinte sie, es wäre auch tapfer von mir, in meinem Mantel auf der Straße herumzulaufen. Der Mantel ist ganz neu und sehr modern. Ich habe ihr ihren kleinen Fehltritt nicht übel genommen und ihr von der Kirchengruppe erzählt, zu der ich immer mittwochs gehe. Und weißt du, was dieses kleine, arme Geschöpf gemacht hat, liebes Tagebuch? Sie hat schon wieder gelacht und gesagt, dass sie so etwas nicht brauche. Ich habe ihr gesagt, das würde ihr aber sehr helfen, und ihr von meiner Großkusine mit dem Schlaganfall erzählt. Der würde es dadurch auch schon wieder viel besser gehen. Ich glaube, liebes Tagebuch, ich habe sie dadurch sehr aufgeregt. Ich glaube, ich habe da etwas bei ihr in Bewegung versetzt, etwas angestoßen. Denn sie hat angefangen zu grunzen und hat die Augen leicht nach oben gedreht, vielleicht war das auch nur ein leichter epileptischer Anfall, bei dieser schlimmen Krankheit, die sie augenscheinlich hat?

Dann war der Fahrstuhl unten angekommen und wir sind zusammen zu
dem nächsten Fahrstuhl gegangen, der uns auf das U-Bahn Gleis bringen
soll. Sie hatte eine Begleitung, die Begleitung hat aber nichts gesagt, nur
die ganze Zeit merkwürdig gegrinst. Wir sind zusammen zum nächsten Fahrstuhl gegangen, sie hat mich aber nicht weiter wahrgenommen. Das ist wahrscheinlich ein weiteres Symptom ihrer Krankheit. Die Arme sah wirklich aus, als würde sie jede Sekunde zerbrechen, wenn sie sich noch ein bisschen weiter nach hinten strecken würde. Während wir also zusammen zum nächsten Fahrstuhl liefen, habe ich mir ein Herz gefasst und ihren Arm ergriffen, um ihn auf die Armstütze zu legen. Das sieht doch viel gesünder und weniger schmerzhaft aus, aber sie hat
nur aufgeschrieen und dann hat auch ihre Betreuerin angefangen zu schreien,
dabei wollte ich doch nur helfen. Sie hat mich angeschrieen und gesagt, sie wolle nicht angefasst werden und ich solle sie in Ruhe lassen. So ein undankbares Mädchen. Kein Wunder, dass die so eine Krankheit hat, wenn sie Hilfe nicht mal annehmen kann. Jedenfalls habe ich ihr dann doch noch zum Schluss drei Euro auf den Schoß gelegt, irgendwie habe ich jetzt doch ein bisschen ein schlechtes
Gewissen, liebes Tagebuch. Vielleicht hätte ich sie doch fragen sollen, ob ich sie anfassen kann oder nicht. Andererseits den Waldi, den Dackel vom Nachbarn Paul, den muss ich auch nie fragen, ob er gestreichelt werden will. Der hat das immer gern und über eine Wurst freut er sich auch immer. Woher sollte ich also wissen, dass dieses Mädchen im Rollstuhl meine Berührungen nicht verträgt, das konnte ich
doch gar nicht wissen. Jedenfalls, liebes Tagebuch, war ich froh, als sie in einen anderen U- Bahnwaggon einstieg als ich und ich ihre steifen, kleinen, zerbrechlichen Ärmchen nicht mehr sehen musste. Eigentlich kann die einem richtig leid tun, liebes Tagebuch, richtig leid. So ein schweres Schicksal und dann auch noch so depressiv und feindselig. Ich werde morgen in der Kirche für sie beten und für ihre Familie. Und danach, liebes Tagebuch, schreibe ich von meinem Treffen mit Herrn M. Ich sage dir schon jetzt, liebes Tagebuch, du kannst dich auf einiges gefasst machen.

In stiller Freundschaft,
deine Henriette

Marie Gronwald

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