Blickwechsel: Der blickt zurück

Ein Gemälde, das in seiner Art bemerkenswert ist, ist das „Bildnis eines behinderten Mannes“. Es wurde von einem unbekannten Künstler im 16. Jahrhundert angefertigt und befindet sich in der Kunst und Wunderkammer von Schloss Ambras bei Innsbruck (Österreich). Dargestellt ist ein gleichfalls unbekannter Mann, nackt auf dem Bauch auf einer Pritsche liegend und nur mit einer Mütze und einer Halskrause bekleidet. Der Körper des Dargestellten ist besonders bemerkenswert. Der linke Arm liegt parallel zum Rumpf und die Finger scheinen nicht funktionsfähig zu sein. Die sehr dünnen Beine sind gekreuzt, die Füße deformiert und nach hinten angezogen. Ganz offensichtlich ist der Mann also behindert. Sein Kopf hebt sich stark vom restlichen Körper ab, der Hals ist steil aufgerichtet
und der Blick stolz und starr auf den Betrachter gerichtet, so dass der Betrachter egal von welchem Standpunkt er auf das Gemälde sieht, den Eindruck hat,
angesehen zu werden. Und das ist ungewöhnlich. Sonst stehen doch gerade von der Norm abweichende Menschen im Interesse der anderen. Sei es der interessierte oder mitleidige Blick auf der Straße oder der objektivierende medizinische Blick eines Arztes. Hier jedoch kommt es zum Blickwechsel. Der das Bild Betrachtende
wird zugleich selbst angesehen. Über den Körper des Dargestellten war früher ein Vorhang aus rotem Papier gezogen, so dass nur der Kopf zu sehen war. Davon zeugen Papierreste oberhalb des Körpers. Durch diese Abdeckung sollte wahrscheinlich ein Überraschungseffekt erzielt werden, wenn der nackte Körper zum Vorschein kam. Wahrscheinlich ist auch, dass der Vorhang nur zu bestimmten
Anlässen aufgezogen wurde. Das Interesse am Bild wurde in den letzten Jahren vor allem durch ein interdisziplinäres Forschungsprojekt geweckt. Hier arbeiteten Wissenschaftler zusammen mit Aktivisten aus der emanzipatorischen Behindertenbewegung. Die Ergebnisse können in einem wissenschaftlichen
Sammelband nachgelesen werden. Ein weiteres Ergebnis war eine Ausstellung mit dem Titel „Das Bildnis eines behinderten Mannes. Blicke, Ansichten, Analysen“, zu der es einen Katalog samt Wörterbuch gibt. Thema der gezeigten Werke war einmal
mehr der Blick: von behinderten Künstlern auf Behinderung bzw. auf die nichtbehinderte Welt. Das „Bildnis eines behinderten Mannes“ ist eine von vielen (historischen) Darstellungen von Menschen, die von der Norm abweichen. Das Besondere an diesem Bild aber ist der Blick, der den dargestellten Mann vom Objekt zum Subjekt werden lässt.

Mürner, Christian; Schönwiese, Volker (Hrsg.): Das Bildnis eines
behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins
21. Jahrhundert, AG SPAK Bücher, Neu Ulm 2006 (Ausstellungskatalog
und Wörterbuch)
Flieger, Petra; Schönwiese Volker (Hrsg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, AG SPAK Bücher, Neu Ulm 2007 (Wissenschaftlicher Sammelband)

Jan Plöger

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