Euer Mitleid kotzt mich an!

Ich muss es mal schreiben. Es ist undiplomatisch, ruppig und nicht gerade etwas, das man von einem Menschen hören will, der Kommunikation zum Beruf gemacht hat. Und in der Tat verstehe ich meine Arbeit als PR’ler für die Sache der blinden und sehbehinderten Menschen so, dass ich auch den Kontakt zu Mitbürgern suche, die Vorurteile gegenüber Behinderten haben. Ich habe die Hoffnung nicht verloren, ihre Vorurteile abbauen zu können. Und das werde ich auch weiter versuchen. Dennoch gibt es auch eine Wahrheit, die ich mal so klar hier formulieren muss: Euer Mitleid kotzt mich an! Es war auf meinem Weg zur Arbeit, als mich auf dem U-Bahnsteig eine ältere Dame ansprach: „Kann ich Ihnen beim Einsteigen helfen?“ Diese Frage wird mir häufig gestellt, und ich finde sie absolut okay. Ich sage dann in der Regel, so auch zu der älteren Dame: „Nein danke, das geht schon.“ Nach einer kurzen Pause fragt sie: „Und geht das wieder weg?“ Sie meint meine Blindheit. Da bin ich mir sicher. „Nein, das geht nicht mehr weg“, sage ich denn auch. „Wie schrecklich“, platzt es aus ihr heraus, „so ein junger Mann.“ Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass sie mir noch sagt, wo sich die Waggontür befindet, obwohl ich längst gehört habe, wo sie aufgegangen ist. In der Bahn will sie mir zeigen, wo ein freier Platz ist, obwohl ich vor einem Tag am Schreibtisch auch gern mal in der Bahn stehe. Es ist dieses Nicht-ernst-nehmen, das mich so wütend macht. Wenn ich sage, dass ich keine Hilfe möchte, dann ist das so. Wenn man mich dann nicht in Ruhe lässt, dann spricht man mir ab, selbst zu wissen, was gut für mich ist. Es kam aber in diesem Fall noch schlimmer. Kurz vor dem Bahnhof, in dem ich umsteigen muss, kam die mitleidende Dame zu mir: „Wo möchten Sie denn gleich hin? Ich helfe Ihnen.“ „Bitte lassen Sie mich doch jetzt in Ruhe“, bat ich. Ich fühlte mich schlecht, irgendwie bedrängt. „Ich möchte ja nur helfen“, rechtfertigte sie sich, um dann noch ein paarmal „wie schrecklich, so ein junger Mann“ vor sich hinzumurmeln. Ich bezweifle, dass solche Menschen wirklich helfen wollen. Vielmehr verlangen sie Dankbarkeit für etwas, das ich gar nicht haben will. Ihr Mitleid ist Überheblichkeit. Sie nehmen mich ausschließlich als hilfebedürftiges Wesen wahr. Ich jedenfalls hatte den Eindruck, mich für meine Blindheit rechtfertigen zu müssen. Möglicherweise fühlen sich die meist älteren Mitbürger sogar noch besonders menschlich, christlich vielleicht, aber das sind sie nicht. Im Gegenteil: Ihr aufgedrängtes Mitleid tut weh. Ich jedenfalls fühlte mich an diesem Morgen schwach und entmündigt. Es ist nicht meine Behinderung, die im Alltag frustriert. Es sind Begegnungen wie diese, die Wut erzeugen. Ich möchte Begegnungen wie die mit der Frau in der U-Bahn nicht mehr haben. Und ich bilde mir auch ein, dass sie tendenziell seltener werden. Meine Vision ist, dass es auch in Deutschland eine Zeit geben wird, in der kein behinderter Mensch mehr solche Situationen erleben muss. Daher werde ich auch weiter gegen Vorurteile und für einen respektvollen Umgang mit behinderten Menschen streiten. Ich freue mich darauf, Vorurteile abzubauen und Wissenslücken zu schließen (bei meinem Gegenüber und bei mir). Aber ich werde auch sagen, wenn mich Euer Mitleid ankotzt.

_Heiko Kunert, Jahrgang 1976, ist vollblind und lebt in Hamburg. Er betreut die PR-Arbeit des dortigen Blinden- und Sehbehindertenvereins. Über seinen Alltag schreibt er in seinem Blog http://blindpr.wordpress. com. Sein Text: „Umgang mit behinderten Menschen: Euer Mitleid kotzt mich an!“ veröffentlichte er im August 2010 in seinen Blog. Für Mondkalb beschreibt Heiko Kunert die Reaktionen auf seinen Text: „Als ich mir meinen Frust von der Seele schrieb, ahnte ich nicht, welche Wellen das schlagen würde. In der Regel blogge ich in einer Nische. 100 bis maximal 700 Leute finden täglich den Weg auf meine Seite. Den Artikel über den Umgang mit behinderten Menschen klickten dagegen rund 12.000 Besucher in den ersten drei Tagen an. Statt zwischen null und fünf, gab es über 260 Kommentare. Und die hatten es in sich. Kontrovers und emotional ging es zu. Viel Verständnis gab es, aber auch sehr scharfe Kritik an mir und meinem Blogeintrag. Einige Beispiele: Julia: „Wir müssen endlich mal von diesem „die armen Menschen!“ weg und einfach unkompliziert und ohne viel Tamtam helfen, wo es notwendig ist und die Leute ansonsten einfach mal ihr Leben leben lassen.“ OliverG: „Ich glaube, du hast die Gefühle der Dame nicht verstanden. Sie hatte Angst, dass ihr das passiert, dass ihrem Sohn oder Enkel das passiert.“ Beowulf: „Mich kotzt dein Selbstmitleid an.“ Elisa: „Sitze selbst seit 2 Jahren im Rollstuhl. Und ich kann nur sagen: Dass du genau das aufgeschrieben hast, was mir jeden Tag auf dem Weg zur Schule mit dem Bus durch den Kopf geht. Und in diesem Sinne, Danke!“_

Heiko Kunert

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