Im Gewand der Autonomie

Selbstbestimmt leben – bis zuletzt. Kaum ein Wert wird in unserer Gesellschaft so hoch geschätzt wie Autonomie. Wo institutionelle Zwänge der Selbstbestimmung entgegenstehen, sollen Rechtsprechung und Gesetzgeber die Interessen des Einzelnen stärken. Zum Beispiel mit Hilfe der Patientenverfügung. Deren vollständige Legalisierung soll aus hilflosen Kranken mündige Bürger machen, die selbst entscheiden, wann und wie sie sterben wollen. Die Werbung der Verfügungsbefürworter blendet aber regelmäßig aus, unter welchen sozialen und ökonomischen Bedingungen hierzulande Patienten behandelt und gepflegt werden.

Jeder kann, so das mit Patientenverfügungen verbundene Versprechen, seine eigenen Vorstellungen vom Sterben verwirklichen, indem er noch in gesunden Tagen festlegt, welche Behandlungen er im Falle einer späteren „Nichteinwilligungsfähigkeit“ ablehnt: Reanimation oder lieber nicht? Künstliche
Beatmung oder lieber nicht? Ernährungssonde oder lieber nicht? Flüssigkeitszufuhr oder lieber nicht? Patientenverfügungen verheißen die Machbarkeit des selbstbestimmten Sterbens durch die Möglichkeit der Abwahl lebenserhaltender Versorgung und Behandlung – und dies unabhängig davon, welche Variante sich am Ende durchsetzt, ob die Verfügungen regelmäßig erneuert, ihrer Abfassung eine Beratung vorausgehen oder ihre Reichweite auf bestimmte Krankheitsfälle
begrenzt bleiben muss. Jede Patientenverfügung verspricht, meinen persönlichen Willen auch dann in Realität umzusetzen zu können, wenn ich selbst diesen Willen nicht mehr äußern kann. Unterstellt wird eine Kontinuität des eigenen, stets rationalen Selbst, die bis zum tatsächlichen Eintritt des Todes ungebrochen funktioniert. Doch wer sagt, dass ich – etwa im Prozess der existenziellsten Veränderung, die Menschen üblicherweise erleben, dem Sterben – tatsächlich
immer noch die sein werde, die ich jetzt bin? Warum sollte eine solche Veränderung nur meine Artikulationsfähigkeit, nicht aber meine konkreten
Wünsche nach Behandlung, Beatmung, Nahrung, Zuwendung oder Weiterleben beeinflussen?
Immer wieder wird berichtet, dass Menschen, die vielleicht nur noch wenige Zeit zu leben haben, über diese verbleibende Lebenszeit sehr anders denken als vorher. Dass ihnen jeder Tag, jede Stunde plötzlich sehr viel wert ist. Das heißt nicht, dass es immer so ist. Es heißt lediglich, dass es so sein kann und dass es bei einem
Menschen, der sich nicht mehr äußern kann, keine Gewissheit darüber gibt, ob er jetzt in diesem Moment weiterleben möchte oder nicht – auch wenn er zu „einwilligungsfähigen Zeiten“ noch so viele Formulare ausgefüllt hat.
Entscheidend aber ist: Patientenverfügungen regeln keineswegs nur den bereits eingetretenen Sterbeprozess. Die Rede von der „Autonomie am Lebensende“
ist irreführend. Denn es geht immer auch um Pflegebedürftige oder Schwerkranke, die gar nicht im Sterben liegen, wie zum Beispiel Wachkoma und Demenzpatienten. Deren Dasein wird aber de facto als eine vorgezogene
Form des Sterbens definiert, wenn es genauso individuell „abwählbar“ sein soll wie lebenserhaltende Maßnahmen im Sterbeprozess.
So wird mit Hilfe der Patientenverfügung die gesellschaftliche Verantwortung für den Umgang mit Alter, Demenz, Gebrechlichkeit, Sterben und Tod der „planerischen Vernunft“ der Einzelnen aufgebürdet. Autonomie, die Möglichkeit, über die Umstände des eigenen Lebens selbst zu bestimmen, erscheint als definierbarer Zustand und als gefährdetes Gut, das durch einen Vertrag zwischen Individuum und Staat gesichert werden muss – nicht als vielschichtiger und bedingungsabhängiger Prozess. Familiäre, ökonomische und soziale Bedingungen „am Lebensende“ werden damit de facto auf den Status von Nebensächlichkeiten herabgewürdigt – schlicht, weil sie nicht in Ja/nein- Optionen organisierbar sind. Der ideale vorausschauende Patient ist weniger ein gesellschaftliches Wesen als ein rationaler Entscheidungsakteur, der aus verschiedenen Optionen die für sich passenden auswählt. Es ist letztlich der Mensch als Kunde, der hier beschworen
wird.
Und das ist kein Zufall. Denn die Debatte um Patientenverfügungen wird geführt
vor dem Hintergrund der „Verbetriebswirtschaftlichung“ von Gesundheitsversorgung
und Pflege, der Entsicherung von Alter und Krankheit – und begleitet von der beständigen Aufforderung, für sich selbst zu sorgen, Kosten einzusparen und den eh schon leer gepumpten Sozialkassen nicht selbstverschuldet zur Last zu werden. Längst regiert – vermittelt durch Budgetierung und Privatisierung – in Krankenhäusern und Pflegeheimen neben der medizinischen die betriebswirtschaftliche „Vernunft“. Dabei handelt es sich nicht um ein harmonisches Nebeneinander. Oft gerät die eine zur anderen Logik in Widerspruch. Was medizinisch oder pflegerisch geboten ist, kann buchhalterisch zum Problem werden. Eine Patientenverfügung, in der erklärt wird, man wolle keine „lebensverlängernden Maßnahmen“, kann diesen Widerspruch entschärfen und die ärztliche Entscheidung für das kostengünstigere „Sterbenlassen“ erleichtern.

Auch in die häusliche Pflege greift eine Patientenverfügung unter Umständen gravierend ein. In dem Maße, in dem die Sicherheit, im eigenen Alter, bei Krankheit und/oder Pflegebedürftigkeit umfassend versorgt zu werden, brüchig wird, erhöht sich sowohl der Druck auf die privat Pflegenden wie insgesamt auf das „Pflegesystem Fa milie“, auch hier geraten moralische (Selbst-)Erwartungen mit psychischen und ökonomischen Belastungen in Konflikt. Wer weiß oder ahnt, wie sehr eine häusliche Dauerpflege alle Beteiligten belastet, der entscheidet sich vielleicht etwas leichter für den präventiv verfügten und ärztlich assistierten
Versorgungsabbruch – ganz einfach um die Belastung der eigenen Angehörigen zu begrenzen. Patientenverfügungen könnten sich so als Instrument einer kostengünstigen und politisch unverdächtigen „Selbstentsorgung“ erweisen: Im Gewand von Autonomie und Selbstbestimmung werden Staat und Gesellschaft von sozialpolitischer Verantwortung entlastet. Pflegeintensive Lebenssituationen werden – durch individuelle Abwahl – „vermeidbar“.
Zugespitzt: Der idealtypische Protagonist der Patientenverfügung ist ein
einsamer „Homo Oeconomicus“, der sich – paradoxerweise im Namen seiner individuellen Selbstbestimmung – noch im Akt des Sterbens politisch produzierten „Sachzwängen“ unterwirft, indem er eine individuelle Antwort auf folgende, die Gesellschaft betreffende Fragen gibt: Wie gehen wir mit Situationen existenziellen Angewiesenseins auf Zuwendung, Pflege, Versorgung und Therapie um? Wie
lassen sich diese Situationen so gestalten, dass die konkreten Bedürfnisse der
Kranken oder Sterbenden und ihrer Angehörigen weitmöglichst befriedigt werden? Welche institutionellen Strukturen, welche professionellen Kompetenzen,
welche sozialen und finanziellen Ressourcen, welche räumlichen Bedingungen,
welche Form der Absicherung von Alter, Krankheit und Pflegebedürftigkeit brauchen wir – und wer entscheidet über ihre Gestaltung und Verteilung?

So herum gefragt, geht es weniger um die Ausarbeitung von juristischen
Verfahrensdetails als um die Herstellung einer die Einzelnen auch in Situationen
existenzieller Bedürftigkeit tragenden Gesellschaftlichkeit, die alle umfasst –
auch diejenigen, die nach herrschenden Maßstäben nicht mehr „rational“ entscheiden können. Und das heißt auch: Nicht die Entscheidung „zum Tod“ steht dann im Mittelpunkt der Debatte, sondern die Gestaltung der Möglichkeiten, mit
(schwerst)pflegebedürftigen Menschen gut zu leben.

Stefanie Graefe

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