In dubio pro vita

Ein neuer Tag. Die Menschen, die hier in der „Morgenröte“ leben, der ersten Etage im Elisabeth-Seniorenzentrum am Ostberliner Weinbergsweg, werden nicht geweckt. Jedenfalls nicht wie anderswo. In der Frühe zwischen fünf und sechs Uhr hat die Nachtschwester ein letztes Mal die Zimmer betreten und bei jedem die Ernährungspumpe angestellt. Frühstück durch die Magensonde: „Nutrison Multi Fibre“ – je nach Bedarf mit Ballaststoffen oder ohne; zweihundert Milliliter pro Stunde. Derweil sind Schwestern, Pfleger und Therapeuten damit beschäftigt, die dreizehn Bewohner zu waschen oder zu duschen. Inkontinenzmaterial soll gewechselt und das Bett gemacht werden. Überhaupt müssen die Leute hier für den Tag angekleidet werden. Selbst die Bettlägerigen bekommen ein neues T-Shirt. Und wer im Rollstuhl sitzen kann, wird ins Wohnzimmer gebracht und später, wenn es das Wetter zulässt, an die frische Luft begleitet. Nachdem die Zimmer dann alle passiert sind, beginnt die Runde, freilich erst nach einer Tasse Kaffee, wieder von vorn – Dekubitus-Prophylaxe. Damit sich niemand wund liegt, müssen die Bewohner regelmäßig neu gelagert werden.
Morgenröte heißt die rötliche Färbung am Osthimmel in den Minuten vor Sonnenaufgang. Dann ist die Nacht beinahe vorbei – und auch der tiefe, feste Schlaf, wie es der griechischen Ursprung des Wortes Koma sagt. Demnach wäre ein Wachkoma, auch bekannt als Apallisches Syndrom, so etwas wie ein langer Schlaf mit geöffneten Augen. Wer so etwas zum ersten Mal sieht, glaubt, dass
da jemand gerade aufwacht.
„Wir wissen nicht, was diese Menschen empfinden“, sagt die Ergotherapeutin. „Vielleicht ist es wie in einem dunklen Raum; an manchen Tagen ist man dem Fenster näher, an manchen ferner.“ Dann beugt sie sich übers Bett. „Ich werde dich jetzt rasieren“, sagt sie mit warmer Stimme. Der Angesprochene zeigt wenig Reaktion, nur die Augen flackern. Der Kopf ist überstreckt und zum Fenster gewendet, seine Arme sind in Beugespastik verkrampft, dagegen sind die Beine völlig durchgedrückt – Streckspastik. Mit der linken Hand berührt sie den Brustkorb des Mannes, um sich dann mit dem Rasierapparat in der rechten langsam dem Gesicht zu nähern. Auf einmal dreht sich ganz leicht der Kopf in Richtung Rasierer, so als höre der Mann das leise Summen des Motors.
Über dem Bett hängt eine Wandzeitung mit Fotos. Die zeigen einen jungen Mann in Armeeuniform und denselben, aber nicht den gleichen Mann, viele Jahre später im Rollstuhl. Mutter und Großmutter umarmen ihn. „Hallo ich bin der P.“, ist zu lesen. „Von Beruf bin ich Schlosser und habe zuletzt in einer Brunnenbaufirma gearbeitet… In meiner Freizeit höre ich gern Roxette. Mein größtes Hobby ist mein Motorrad, eine Suzuki-GSX 1100.“ Ein Golf-Fahrer habe ihm die Vorfahrt genommen.
Das war 1993. Im vorigen Jahrhundert war das. Das Internet war damals nur ein Gerücht, Helmut Kohl noch Kanzler und Deutschland amtierender Fußballweltmeister! Und wer zur Hölle ist Roxette?!
Es bräuchte ein Wunder, dass P. wieder zurück ins alte Leben findet. Selbst wenn er wieder das volle Bewusstsein erlangen sollte – seine Arme bekäme er nicht mehr gerade gestreckt, die Sehnen sind inzwischen verkürzt. Die Füße sind zu
Spitzfüßen verformt. Genau genommen wäre P. allein schon physikalisch gar nicht in der Lage zu sprechen: Seine Zunge wäre nach so langer Zeit kraftlos, außerdem hat sich der Gaumen zurückgebildet, und wegen des offenes Tracheosstomas,
einer Öffnung am Hals, unterhalb des Kehlkopfes und damit der Stimmbänder, würde er keinen Laut hervorbringen können. Dagegenaber hilft eine OP.
„Jetzt putze ich dir die Zähne.“, sagt die Ergotherapeutin. „Meine Hand kommt an dein Gesicht. Gleich spürst du die Zahnbürste.“ Die Augen flackern immer noch. Plötzlich verkrampfen sich die Finger auf halben Weg zur Faust. Zum Zähneputzen benutzt sie Mundwasser. An allem anderen könnte er ersticken. P. hat nur noch eine eingeschränkte Schluckfrequenz.
Ob sie auch so daliegen möchte nach einem Unfall? „Nein.“ Sie schüttelt den Kopf und sagt, dass sie sich nicht vorstellen kann, in diesen Zustand zu geraten und so zu leben. – Aber warum arbeitet sie dann mit und für Menschen im Wachkoma? Es heißt doch: Was du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem anderen zu. – Das sei etwas anderes. Wenn ein Mensch reanimiert worden sei, habe die Gesellschaft die Pflicht ihn am Leben zu halten und das nicht irgendwie, sondern würdevoll eben, auch wenn kein Bewusstsein vorhanden sei: „Aber das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass sich Menschen im Wachkoma nicht mitteilen.“
Es sei wichtig, erzählt eine der Krankenschwestern hier, dass solche Menschen in einem speziellen Bereich des Pflegeheimes leben können, weil nur dort eine professionelle und auf das Krankheitsbild abgestimmte Pflege und Betreuung erfolge, die mit einem aktivierenden und rehabilitativen Anspruch einhergehe. Hinzu käme, dass die Angehörigen ganz anders „aufgefangen“ werden müssten. Wie der achtzigjährige Vater von B. Beim Joggen habe B. einen Herzinfarkt erlitten und liege seither im Wachkoma. Für den alten Herren sei das alles sehr schrecklich,
eigentlich sollen doch die Väter vor den Söhnen sterben… – aber der Sohn liege eben nicht im Sterben. „Wachkoma ist eine extreme Lebensform“, sagt sie, „eingetreten nach einer schweren Hirnschädigung.“ Deshalb sei auch die Arbeit und der Austausch mit den Familien und Freunden so wichtig. Nur gemeinsam bekäme man eine Ahnung über den mutmaßlichen Willen des Menschen, der im Wachkoma ist.
So wird eine junge Mutter, die aus dem Kosovo stammt, nie von männlichen Pflegekräften gewaschen und für den Tag vorbereitet. Inzwischen kann sie wieder ein wenig schlucken. Bis zum Unfall war sie Vegetarierin – und ist es bis heute mit
dem pürierten Essen, das ihr gereicht wird.
Nicht selten ist der mutmaßliche Wille eigentlich der mutmaßliche Geschmack: Die Zimmer könnten unterschiedlicher nicht eingerichtet sein, von den Angehörigen. Während das Zimmer der jungen Frau beinahe schon indisches Flair hat – mit gelben Tapeten, orangefarbenen Vorhängen, meditativer Musik, einem Sofa und vielen kleinen Buddhas – wird ein paar Zimmer weiter, bei einem ehemaligen Straßenbahnfahrer, Deep Purple gespielt und AC/DC. An der Wand hängt ein Plakat von Hansa Rostock, daneben dann ein weiblicher Akt. – Die Krankenschwester sagt: „Die Eltern meinen, dass er das so will. Dann soll es eben
so sein.“
Der Wille des Menschen ist nicht wirklich frei, schon gar nicht der mutmaßliche. Vor einigen Jahren sorgte der Tod eines Bewohners bundesweit für Aufsehen. Er war von seiner Mutter übers Wochenende aus der „Morgenröte“ nach Hause geholt und dann dort vergiftet worden. Anschließend nahm auch die Frau den Tablettencocktail
ein, überlebte aber. Über diese Geschichte wollen weder Schwestern noch Therapeuten reden; die Schweigepflicht gelte über das Leben der Bewohner hinaus. Doch der Widerspruch bleibt: Die Richter haben die Frau wegen „Tötung auf Verlangen“ verurteilt, dann aber von einer Strafe abgesehen. – Nur, wie kann es im Wachkoma ein „Verlangen“ geben?! Angeblich habe ihr Sohn mit Augenzwinkern zu verstehen gegeben, dass er seinen Zustand nicht mehr ertrage.

André Oberfeld, der Leiter des Pflegeheims, sagt, es käme oft vor, dass die engsten Angehörigen irgendwann überfordert seien. „Viele sind vereinsamt und auch seelisch am Ende.“ Von der Verzweiflung jener Mutter habe niemand etwas geahnt. Seine Mitarbeiter seien damals aber völlig überrascht worden. „Das Krankheitsbild Wachkoma ist eben eine ständige Herausforderung an unser Menschenbild.“
Vor einiger Zeit brachte das Fernsehen immer wieder Berichte von einem italienischen Vater und seinen Bemühungen, die künstliche Ernährung seiner Tochter einstellen zu lassen, die siebzehn Jahre im Wachkoma gelegen hatte und in einem Pflegeheim untergebracht war. Ministerpräsident Berlusconi versuchte noch in letzter Minute, mittels Notverordnung, die vom Gericht bestätigte Beendigung der lebenserhaltenen Maßnahmen zu verhindern, ohne Erfolg. Die Frau starb am 9. Februar dieses Jahres. Ob sie bis zu diesem Tag überhaupt noch gelebt hat, darüber wird gestritten. Über die Frage, was Leben ist, wann es beginnt und wann es endet – darüber wird es in einer sich pluralistisch nennenden Gesellschaft nie Einigkeit geben.

„Aussagen über die Lebensqualität von Wachkomapatienten halte ich für schwierig“,
sagt Alfred Simon, habilitierter Philosoph und Geschäftsführer der Göttinger Akademie für Ethik in der Medizin. Man wisse zu wenig darüber, ob diese Menschen
überhaupt etwas wahrnehmen; auf jeden Fall gebe es keine eindeutigen Belege dafür, dass Wachkomapatienten lebenserhaltende Maßnahmen als so belastend
erleben, dass dadurch die weitere Durchführung dieser Maßnahmen medizinisch grundsätzlich in Frage zu stellen wären. – Simon hält die derzeitige Praxis – in dubio pro vita – für das kleinere Übel, verglichen mit der Gefahr, dass die Gesellschaft irgendwann Menschen sterben lässt, nur weil sie ihren Wunsch nach weiterer Lebenserhaltung nicht dokumentiert haben. Ähnlich sieht es der „Morgenröte“-Chef Oberfeld: Eine zu liberale Sterbehilfepraxis könne zu einem Alibi werden für Fehlentwicklungen im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen. Nach dem alten Motto: Bist du arm, musst du eher sterben.
Überhaupt werde es für die Pflegeheime immer schwieriger, kostendeckend zu arbeiten. Die Sozialämter würden Leistungen kürzen, bei den Krankenkassen sehe es auch nicht besser aus.
Manchmal aber geschehen doch noch kleine Wunder! Herr T., ein Vietnamese,
der schon einige Jahre in der „Morgenröte“ lebt, benutzt neuerdings richtige Zahncreme. Eine Logopädin hilft ihm dabei. Im Rollstuhl hat sie ihn ans Waschbecken gefahren. Mundhygiene ist eine sensomotorische Stimulation, sagt sie, ein Input der gegeben wird. Herr T. ist seit einiger Zeit „aufgewacht“, jedoch noch nicht bei vollem Bewusstsein, aber immerhin. Die Schwester wird von ihm schon mal auf Französisch begrüßt („Comment allez vous?“) Meist redet er aber in seiner Heimatsprache. Dabei wiederholt er immer einen ganz bestimmten Satz, glaubt die Logopädin, den sie sich von seinem Bruder hat übersetzen lassen: „Wenn du nicht richtig schlafen kannst, wenn du nicht essen kannst und wenn du nicht sprechen kannst, dann bist du kein Engel.“ – Ein bisschen Engel sei er schon wieder, sagt die Logopädin, lächelt, berührt seine Hand.

Karsten Krampitz

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