Mitropa-Novelle

Foto:  Pierre Willscheck (CC BY-NC 2.0)

Foto: Pierre Willscheck (CC BY-NC 2.0)

Als ich kurz nach der Wende zu einem Freund nach Hamburg wollte, hatte ich den Anschluss verpasst und der S-Bahn-Pendelverkehr zwang mich, in aller Herrgottsfrühe über eine Stunde auf dem Hauptbahnhof zu warten.
Was soll’s, dachte ich, Geld hast du kaum, dafür aber Zeit und davon jede Menge. In der Mitropa gab’s jetzt schon neben den Bouletten mehrere Biersorten. Eine reichte. Die Welt war in Ordnung. Zum Glücklichsein bedarf es wenig, einiger Fliegen auf der Serviette, des richtigen Stempels im Ausweis und einer anständigen Blume in der Tulpe… – Zu meinem Leidwesen aber war dieser Frieden nicht von Dauer. Natürlich hatte ich schon aus Gewohnheit meinen Tisch, einem Revier gleich, mit Zeitung und Gepäck abgesteckt, was den älteren Herren allerdings nicht zu stören schien.
„Is’ hier noch frei?“, sprach er, lächelte auf mich herab und hatte den Stuhl schon zurückgezogen. Ich nickte und griff nach der Zeitung. Über die Titelzeile hinweg musterte ich ihn. Nun – wie konnte es auch anders sein – er war einer von denen, die damals immer öfter hier auftauchten: Typen, die Goldkettchen tragen, Büchsenbier trinken und womöglich noch auf Tennis-Borussia stehen. Mit ihrer Valutastütze machten Sie in der Noch-Zone einen auf Krösus. Die Kellnerin schaute vorbei, und da sie schon mal da war, nahm sie auch gleich seine Bestellung auf. Zum Glück nichts zu essen, so dass einem die Hoffnung blieb, sein Zug würde bald fahren.
Mein Glas war noch zur Hälfte voll, da griff der Fremde auch schon in seine Jacke, um mir kurz darauf erst seine Zigaretten und dann ein Gespräch aufzudrängen.
„Du solltest damit aufhören. Glaub mir, ist besser für dich. Ich bin schon zu alt dafür. Komm nicht mehr von los.“
Was für ein Schwachsinn. Unsereins ist schon froh, nicht jeden Tag an was völlig anderes zu denken, und da reden die Leute von der Schädlichkeit des Rauchens. Wenn wirklich was ungesund ist, dann körperliche Arbeit. Steh mal dreißig Jahre lang an der Drehmaschine…
Wortlos entleerte die Kellnerin ihr Tablett auf unseren Tisch, ließ dabei das Lächeln des Fremden unbeantwortet.
„Du kommst von hier, aus Ost-Berlin?“ fragte er mich und schaute ihr nach.
„Hmmm.“
„Schon komisch, ich kannte hier mal ’ne Kellnerin. Sah genauso aus wie die eben. Aber das ist schon zwanzig Jahre her.“
„Ach so“, gab ich zur Antwort und bemühte mich, meine Höflichkeit so aufgesetzt wie nur möglich erscheinen zu lassen. Aber der Fremde hatte kein Gehör für Dinge, die man nicht sagt. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl umher und holte beim Reden kaum Luft, aus Angst, ich könnte ihn unterbrechen.
„… weißt Du, ich war bei meinen Eltern rausgeflogen, wohnte bei einem Kumpel und jobbte hier als Aushilfe in der Küche, für vier fünfzig die Stunde. Sicher, würd’ ich heute nicht mehr tun, aber damals konntest Du von fünfzig Mark die Woche leben. –
Ostmark, versteht sich. Also ich sag dir, das war eine – ein Rasseweib, `n bisschen breit, aber sonst… Augen hatte die… Katja hieß sie.
Jeden Abend ist sie mit einem andere Penner los, eben die, die zum Schankschluss noch dasaßen, ihren Zug verpasst hatten oder so. Katja nahm alle mit. Jeden. Ich hab den Koch gefragt, ob sie es für Geld macht. „Nee“, hat der gesagt, „…die is einfach nur `ne Fotze. Verstehste?“ – Mann, was hätte ich damals drum gegeben, einmal nur mit ihr. Aber sie ließ keinen von uns an sich ran. Ihre Arbeit hat sie ja immer gut gemacht, und alles andere war eben privat.
Eines Tages dann musste ich bei meinem Kumpel raus. Er hatte sich mit seiner Freundin verkracht und wollte wieder in seine Bude. Freundschaft hin, Freundschaft her, ich müsse schon verstehen, und ich verstand auch. Da hab ich eben Katja gefragt, ob ich die Nacht bei ihr könne. ‚Klar’, hat sie geantwortet. ‚Wir sind doch Freunde.’ Ja, und ich glaubte halt zu wissen, was das heißt – Freunde. Es gibt Kumpels, und es gibt Freunde…
Im Bett hab ich dann an ihr rumgefummelt, versucht, sie zu küssen, aber sie verzog keine Miene, sagte nur: ‚Lass!’-einfach nur ‚Lass!‘ Ich meine, was hatten die Wichser vom Bahnhof, was ich nicht hatte? – Gut, schoss es mir durch den Kopf, du stinkst nicht und bist auch nicht besoffen. Am nächsten Tag dann hatte ich immer noch keine Penne. Fuhr also wieder bei ihr mit. Und die Penner holte der Zug oder die Trapo.
Schon verrückt, beim zweiten Mal erst hab ich bemerkt, dass ihre Wohnung nur fünf Minuten entfernt war – zu Fuß! Ihren Trabbi hätte sie auch zu Hause lassen können. Ich und mein kleiner Freund jedenfalls, wir fuhren mit, voller Vorfreude. Vielleicht hatte sie ja gestern Migräne oder so und deshalb keine Lust. – Aber auch in dieser Nacht schob sie mich zurück, sagte nur: ‚Schön, dass du da bist, aber jetzt schlaf.’
Is’ schon ’n Ding, ne? Da liegst du halbnackt mit einer im Bett, hörst deinen Schwanz ticken und weißt, dass die es wirklich mit jedem gemacht hat. Und sie? Sie sagt: ‚Schön, dass du da bist.’ – Okay, sie war einige Jahre älter als ich, schon über zwanzig. Aber was soll’s? Die Nacht darauf jedenfalls hat es mir gereicht. Es war, als ob ich die Krätze hätte. Als sie schlief, griff ich die Oberdecke und zog ins andere Zimmer auf die Couch. Vergiss die Tussi, dachte ich. Einfach nur abgrunzen, und morgen suchste dir ’ne andere Schlafe.
So dämmerte ich vor mich hin. Schätze, ’ne Stunde war vergangen, als ich plötzlich von einem seltsamen Geplapper geweckt wurde…
‚Bin wieder lieb… Komm doch.’
Was war das? Und einen Augenblick später wieder:
‚Morgen kommt Mutti, bestimmt.’
Ist die jetzt völlig durchgedreht?! Am Anfang noch unverständlich, kam es nun immer deutlicher aus ihrem Zimmer. Ich also stand auf, um nachzuschauen. – Und es war, als ob wir beide noch schliefen. Musst dir vorstellen: Ganz weit hinten auf der Matratze hockte Katja und wippte wie zu einem Lied, das ich nicht hörte. Und überall, auf dem Laken, am Nachthemd, ja selbst an ihrem Gesicht war Scheiße verschmiert. Sie spielte damit rum und wimmerte ständig die gleichen Sätze:
‚Morgen kommt Mutti, bestimmt…’
Ich griff nach ihr, rüttelte sie an den Schultern, rief laut ihren Namen, aber sie döste weiter.
‚Bin wieder lieb, morgen kommt Mutti!’
Erst als ich Katja – ganz leicht nur – mit der flachen Hand ins Gesicht schlug, kam sie zu sich. Aber noch ehe ich was sagen konnte, fiel sie in entsetzliche Weinkrämpfe und rannte ins Bad. Ich bin ihr natürlich gleich nach, aber Katja hatte sofort hinter sich abgeschlossen. ‚Was ist?’ rief ich und klopfte gegen die Tür. ‚Brauchst du irgendwas? Alles in Ordnung, Katja???’ – aber sie gab keine Antwort. Während sie duschte, machte ich mich in der Küche sauber und suchte ihr neues Bettzeug raus. Ließ mir Zeit. Doch Katja kam erst aus der Toilette, als ich mich wieder hingelegt hatte und alles ruhig zu sein schien. Wie eine Diebin schlich sie in ihr Zimmer. Minuten vergingen, und keiner von uns beiden vermochte ein Auge zuzudrücken. Ich wurde das Bild einfach nicht los, wie sie dasaß, in dem Zeug…, am liebsten wäre ich noch in der gleichen Nacht auf und davon.
Und sie? Sie konnte auch nicht schlafen. Ich hörte, wie sie sich hin- und herwälzte; das Klicken des Feuerzeugs, und wie sie irgendwas umstieß, bei der Suche nach ’nem Aschenbecher. Die Tür zu ihr war offen, so dass ich nach einer Weile dann rief: ‚Du hast nicht zufällig `ne Zigarette übrig?’, obwohl ich damals gar nicht rauchte.
‚Klar’, hat sie gesagt. Ich setzte mich zu ihr aufs Bett und hab irgendwas erzählt, nur so. Was, ist egal. – Weiß ich auch nicht mehr, nur, dass Katja schwieg. Und wie ich so redete, hab ich mich dann an der Kippe verschluckt, musste mächtig husten, lief knallrot an und hab fast gekotzt. – Und auf einmal hat sie gelacht, immer lauter, so aus vollem Herzen, wie nach einem Witz. Und ich mit ihr. Schließlich habe ich …Äh, Fräulein! Noch ’n Bier bitte, ja? – …habe ich das Fenster geöffnet, damit der Qualm abzog.
Mehr gibt’s eigentlich nicht zu erzählen. Die Überdecke blieb auf der der Couch liegen, und ich schlief bei ihr, hielt sie fest, ganz fest. Ohne fummeln, verstehst Du? Interessiert Dich das überhaupt? Ich rede und rede und vielleicht willst Du es gar nicht hören. – Ah, danke schön. Spricht sich schwer, wenn der Hals trocken ist. Könnt’ ich dann gleich zahlen, bitte? – Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Hat schon ’ne Weile gebraucht, bis Katja darüber reden konnte. Ich glaube, ihre Mutter hat sie mit drei Jahren in der Wohnung zurückgelassen. Einen Vater hatte sie sowieso nicht. Nach fünf Tagen erst brachen Nachbarn die Tür auf – und Katja, die saß in der eigenen Scheiße… immer wieder, auch im Heim. Mit der Pubertät brach es dann richtig aus. Irgendwann aber hat sie gemerkt, dass, wenn sie nachts nicht allein ist, also wer da ist, an den sie sich lehnen kann, dass es dann nicht passiert. Aber welcher Kerl kommt schon zum Pennen mit?
Einen festen Freund hat sie jedenfalls nie gehabt. Naja, und seit der Zeit mit Katja rauche ich eben. Geblieben ist nur die Sucht. Hab schon alles probiert, aber ich komm einfach nicht los…“

Die Frau von der Bahnhofsansage unterbrach uns. „Ja also“, sagte mein Gegenüber, während er nach seiner Uhr schaute und aufstand, „ich muss dann wohl, was?“ Der Kellnerin am Tresen drückte er einen Schein in die Hand, redete kurz mit ihr und schaute zu mir rüber; sie nickte. Ich sah ihm noch nach, als er zur Tür ging, aber er drehte sich nicht um. Und eine halbe Stunde später saß er, genauso wie ich, in einem Zug und fuhr irgendwohin.

von Karsten Krampitz

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