Nachtasyl Gorki

Alljährlich fragt sich bei den ersten Nachrichten über Kältetote eine beschämte Öffentlichkeit, was eigentlich der Staat für Obdachlose tut. Worauf die Volksvertreter gern darauf verweisen, wie viel Geld man zahle und dass alles getan werde, um diese Angebote zu verbessern: Während der sogenannten Kältehilfeperiode (von Anfang November bis Ende März) können z.B. in Berlin Obdachlose in meist überfüllten Notunterkünften und Nachtcafés eine Bleibe für die Nacht finden. Seit Herbst 2009 gehört mit dem „Nachtasyl Gorki“ auch eine Einrichtung des HVD (Humanistischer Verband Deutschlands) Berlin dazu. Jeden Donnerstag bieten wir obdachlosen Menschen direkt am Bahnhof Lichtenberg eine warme Schlafstätte. Das Nachtcafé nutzt Räume in der Tagesstätte für Obdachlose der „MUT – Gesellschaft für Gesundheit gGmbH“, die dort unter anderem eine Arztpraxis und Kleiderkammer betreibt.

In seinem Theaterstück von 1902 „Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe“, nach dem wir uns benannt haben, erzählt Maxim Gorki von den Folgen individueller Hoffnungslosigkeit und gibt damit zugleich eine Allegorie auf die Unbehaustheit unserer Zeit. Und so „[…] wollen wir den Menschen respektieren, nicht bemitleiden. Wir wissen doch nicht, wer er ist, wozu er geboren wurde und was er noch vollbringen kann.“
Die Politik hat sich schon vor langer Zeit aus diesem Themenbereich verabschiedet, jedenfalls als Akteurin. Sie bezahlt, aber gestaltet nicht. Die Verantwortung wurde an freie Träger übertragen, in ihrer Mehrheit Einrichtungen der großen Kirchen. In Fernsehen und Presse werden die Unbedachten dann zu Werbeträgern des christlichen Glaubens. Gott sei dank, denkt sich das Publikum, kümmern die sich um die Mühseligen und Beladenen.
2008 hat unsere Gruppe den kirchlichen Raum verlassen – im Zorn, nicht im Streit. Einen Streit, darüber inwieweit Obdachlosenarbeit politisch sein kann und darf, hat es nicht gegeben, ist doch die Kirche ihrem Selbstverständnis nach ein Ort der Kontemplation und Meditation, aber nicht der Auseinandersetzung. Jenseits der Harmonie wird mitgeteilt, nicht diskutiert. Nach einem Zerwürfnis mit der Diakonie um die Umbenennung der dortigen Einrichtung in „Nachtcafé Landowsky“ suchte ein Teil der Mitarbeiter den Neuanfang unter dem Dach des HVD-Berlin.
Als Debattenthema ist Obdachlosigkeit aber auch schwer zu greifen. Es gibt viele Gründe, warum Leute ohne Obdach sind: Naturkatastrophen wie zuletzt in Haiti, die eine ganze Gesellschaft treffen, erleben wir hierzulande nicht. Gleichwohl erfahren viele Menschen tagtäglich eigene Katastrophen. Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und Beziehungsprobleme bilden den Treibsand. Dabei sind es hauptsächlich Männer, die auf der Straße leben. – Warum eigentlich? Frauen verlieren doch mindestens so oft wie Männer ihre Arbeit, warum nicht auch ihre Wohnung? Kommen Frauen etwa besser mit Einsamkeit zurecht? Hat Obdachlosigkeit seine Ursache etwa auch in männlichem Denken?
So gut wie nie ist sie Ausdruck eines romantischen Aussteigertums, um so öfter aber Folge einer Selbstaufgabe, so als wolle sich derjenige selbst bestrafen, dass man fragen will: „Was für Steine hängen dir am Hals? Was hast du getan, dass du dich derart schämst?“ Wer die eigene Biografie verdrängt und nicht sagen kann, wo er herkommt, der kann auch nicht sagen, wohin er geht, der lässt sich treiben – von einer Wärmestube zur nächsten, von einem Nachtcafé zum anderen. Seit mehreren Jahren steigt zudem die Zahl von Wirtschaftsmigranten aus Osteuropa, die im Westen ihr Glück versuchen wollten und in Berlin gestrandet sind.
Mit dem „Nachtasyl Gorki“ wollen wir nicht nur Teil des bestehenden Hilfesystems bleiben. Unser langfristiges Ziel ist es, zu einem Wandel der Berliner Sozialpolitik beizutragen. Auf dem Gebiet der Obdachlosigkeit soll die Politik wieder aktiv werden: Erster Schritt könnte die Schaffung einer zentralen Anlaufstelle sein, in der einerseits schnell und unbürokratisch durch ein soziales und medizinisches Betreuungsangebot vor Ort und andererseits durch die Bündelung der Kompetenzen von Meldestellen, Jobcentern, Krankenkassen u.ä. dauerhaft geholfen wird.
Wenn unsere Arbeit mit den Obdachlosen etwas gezeigt hat, dann dass man die Menschen nicht der Hilfe anpassen kann, sondern die Hilfe den Menschen angepasst werden muss. Eine Verbesserung der Obdachlosenhilfe wird es nicht ohne Streit geben und auch nicht ohne Streitkultur. Die Diskussion über Armut in Berlin sollte u.a. auch mit der Kirche geführt werden, aber nicht in der Kirche, sondern in demokratisch organisierten Gremien auf Landes- und Bezirksebene – und warum eigentlich nicht am Runden Tisch gegen Obdachlosigkeit?

von Sebastian Rosche und Karsten Krampitz

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