Opferecke

Wie immer behandeln wir in dieser Rubrik Fragen zum Komplex Behinderung, die sich die geneigte Leserschaft gelegentlich stellt, die sie sich aber nie getrauen würde auszusprechen. Unsere heutige Frage lautet: Dürfen sich Behinderte umbringen? Dumme Frage. Das liegt doch wohl auf der Hand, dass sie Hand an sich legen können, wie alle anderen auch.
Aber dürfen das denn wirklich alle anderen auch? Die Zeiten, wo überlebende Selbstmörder bestraft wurden (oft tatsächlich mit dem Tod), sind zumindest hierzulande vorüber. Aber wer dazukommt, wenn sich einer in die Schlinge hängen will, und das nicht verhindert, bzw. ihn dann nicht sofort abschneidet, macht sich strafbar. Eigentlich darf sich also niemand suizidieren – auch nicht Behinderte.
Auch nicht Behinderte? Es ist ihnen ebenso verwehrt wie allen anderen. Ist es ihnen dann aber auch ebenso zugänglich? Wie kann sich eine Frau mit Muskelschwund erhängen, wenn ihre Assistenten nicht die Schlinge knüpfen und ihr um den Hals legen sollen? Die Luft anhalten? Oder stellen Sie sich ein Spastiker mit Athetosen vor, der sich mit einer Pistole selbst um die Ecke bringen will. Das wird doch zum (Un)Glücksspiel! Mit Sicherheit ist die Einrichtung eher hinüber als der Schütze. Oder der Blinde, der vom Turm springen möchte – soll er vor dem Sturz in die Tiefe erst einen Anwesenden fragen, ob die Stelle, an der er steht, auch einen freien Fall garantiert oder nicht nach zwei/drei Metern ein Vordach oder Ähnliches im Weg ist?
Wir sehen: Es gibt durchaus behinderungsbedingte Nachteile beim Selbstmorden. Aber in einer Demokratie wird alles irgendwie wieder ausgeglichen. Und so gibt es auch behinderungsbedingte Vorteile – vor allem beim assistierten Suizid. Jeder kann verfügen, dass man ihm wichtige medizinische Hilfen wie z. B. Notfall-OPs oder künstliche Beatmung vorenthält, wenn er fortan mit Demenz oder einer Lähmung zurechtkommen müsste, dass man ihn also sterben lässt, obwohl man ihn weiterleben lassen könnte. Ärzte und Angehörige sind nach Rechtslage gehalten, dem zu folgen. Ohne Aussicht auf umfassende Einschränkungen aber gibt es das volle Programm an technischer Lebenserhaltung.
Im Notfall wird also der Tod mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert. Der Wille des in Not Geratenen spielt erst einmal keine Rolle. Nur wenn er schwerbehindert sein sollte oder zu erwarten ist, dass er es wird, gibt man ihn dem Tod anheim, wenn er es wünscht oder man mutmaßt, dass er es wünscht. In der Schweiz kann man sich mit einer entsprechend beeindruckenden Behinderung sogar ganz legal aktiv töten lassen, indem man tödliches Gift verabreicht bekommt.
Bedeutet das nicht, dass das Leben eines Menschen, der mit einer Behinderung leben muss, geringer bewertet wird? Ist das nicht Selektion? Ähnelt es nicht dem, was die Nazis mit ihrem Euthanasieprogramm diktatorisch durchzogen, jetzt nur mit dem Vorzeichen der Selbstbestimmung? Ist also nicht mehr der Mord an Kranken und Behinderten das Verbrechen, sondern lediglich, dass man ihn ohne ihre Zustimmung beging?
So leid es uns tut, hoffentlich immer noch geneigte Leserschaft, die Frage, ob sich Behinderte das Leben nehmen dürfen, muss ohne jede Einschränkung mit „nein“ beantwortet werden. Sie dürfen noch viel weniger als Nichtbehinderte Hand an sich legen, bzw. legen lassen, weil das einen Akt der Selbsteuthanasie darstellt. Und das geht ja nun mal gar nicht! Gerade hier in Deutschland.

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