Sterben unter Druck

Gesundheitsleistungen werden mehr und mehr nach scheinbar objektiven Kriterien
vergeben, deren Grundlage die Einschätzung der Lebensqualität durch Dritte ist. In Großbritannien ist das schon im Gesundheitssystem verankert, und zwar in Gestalt der Maßeinheit QUALY (qualitiy adjusted life year), dem „qualitätskorrigierten Lebensjahr“, bei dem die ärztliche Beurteilung der Lebensqualität mit darüber
entscheidet, ob ein Eingriff vorgenommen wird. In diesem System sind behinderte Patienten von vornherein benachteiligt, da ihre Lebensqualität nach dem medizinischen Modell von Behinderung als gering eingeschätzt wird.
In diesem Klima wächst die Angst behinderter Bürger, im Zweifelsfall medizinisch
nicht ausreichend versorgt bzw. ins Heim abgeschoben zu werden und dann nur noch die „Option“ des „selbstbestimmten“ Todes zu haben, für dessen Legalisierung
sich die Stimmen mehren.
Ein Brite hat 2004 einen bisher einmaligen Schritt getan: Er klagte vor Gericht sein
Recht auf Leben ein, indem er gerichtlich feststellen ließ, dass seine künstliche Ernährung, die bei seinem Krankheitsbild in absehbarer Zeit notwendig werden wird, auf jeden Fall vorgenommen und nicht ohne seine Zustimmung abgebrochen werden soll. Nach britischem Standesrecht können Ärzte, auf Basis ihrer Einschätzung der Lebensqualität des Betreffenden, künstliche Ernährung verweigern
oder beenden und sind damit Herren über Leben und Tod. Britische Behindertenverbände verlangen deshalb die Veränderung dieser Richtlinien.

Dass es auch bei uns Befürchtungen dieser Art gibt, zeigte sich in einer Befragung
von Jeanne Nicklas-Faust, in der ein schwerstbehinderter Mann angab, eine Patientenverfügung zur Sicherstellung seiner Versorgung erstellen zu wollen: „Leute,die mich sehen, können sich immer nicht vorstellen, dass ich gerne leb. Aber
das tue ich. Deshalb möchte ich, dass alles medizinisch Mögliche für mich getan wird.“
Für Eltern behinderter Kinder stellen sich im Zusammenhang mit der Diskussion
um Patientenverfügungen Fragen wie „Was bedeutet es für mein Kind, wenn sich eine Sichtweise breit macht, dass abhängig sein, nicht einwilligungsfähig sein, so schlimm ist, dass man schon vorher bestimmen kann, nicht mehr ernährt zu werden, weil es besser ist zu sterben, als zu leben?“.. So befürchtet die Bundesvereinigung Lebenshilfe, dass Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, die in besonders hohem Maße von den Urteilen ihrer Umgebung abhängig und damit auch besonders anfällig für sozialen Druck sind, sich gedrängt fühlen könnten, lebensbeschränkende Patientenverfügungen zu erstellen. Dieser Druck könnte ebenso für alle beeinträchtigten Bürger entstehen, vor allem auch für alte und gebrechliche.
Häufig haben behinderte Menschen auf eigenen Erfahrungen beruhende Vorbehalte
gegenüber dem Medizinbetrieb. Andererseits sind aber viele auch hin- und hergerissen zwischen dem negativen Erleben medizinischer Definitionsmacht und
dem Wissen, dass Medizin gerade für uns oft lebenserhaltende oder –verlängernde
Wirkung hat.
Auf diesem Hintergrund sollten wir auch an das Thema Patientenverfügung herangehen, denn gerade für uns geht es nicht nur um die Abwehr unerwünschter
Lebensverlängerung, sondern um den Erhalt optimaler medizinischer Versorgung
und Assistenz. Und entsprechend kritisch sollten wir die weitere Diskussion um
Patientenautonomie verfolgen und uns lautstark melden, wenn diese als Deckmantel zur Kostenreduzierung im Sozial- und Gesundheitswesen missbraucht
wird, denn wichtiger als ein selbstbestimmter Tod ist doch allemal ein selbstbestimmtes Leben.

Swantje Köbsell

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