Theater statt Zeitung

Am 30.11. Und 01.12. letzten Jahres
war es so weit: An zwei Abenden
hieß es im Familiengarten in der Kreuzberger
Oranienstraße „Kieztheater live
– das Mondkalb”. Gute zwei Monate
des intensiven Entwickelns und Probens
gingen damit zu Ende.
Am Anfang stand eine Anfrage des
Kieztheaters Kreuzberg. Auf der Suche
nach einem Thema sei man auf Mondkalb
aufmerksam geworden. Die Aufführungen
des Kieztheaters dienen
zum einen dazu, auf bestimmte Probleme
hinzuweisen und zu thematisieren
und sollen andererseits einer Initiative,
die in diesem Bereich arbeitet, zu größerer
Bekanntheit verhelfen. Für dieses
Mal hatte man sich also für Mondkalb
entschieden. Wie mir zu Ohren kam,
mussten für diese Entscheidung bei
nicht wenigen Mitgliedern der Theatergruppe
so manche Zweifel und Unsicherheiten
ob des Themas Behinderung
aus dem Weg geräumt werden. Innerhalb
der Mondkalbredaktion stieß das
Vorhaben auch nicht unbedingt sofort
auf ungeteilte Zustimmung, schien der
Plan des Kieztheaters Kreuzberg doch
allzu ambitioniert. Man hatte wohl zu
Theater statt Zeitung
Mondkalb konnte in Kreuzberg auch im
Theater gesehen werden
sehr die
eigenen
Mondkalberfahrungen
im Kopf,
die lehrten, dass Anspruch
und Wirklichkeit
weit auseinandergehen
können. Doch die Arbeit der
Theatergruppe erwies sich als weitaus
professioneller als an- genommen
und die anfänglichen Befürchtungen
als unbegründet. Nachdem diese Hindernisse
beseitigt waren, ging ich zu
einem ersten Probenwochenende. Bis
zu diesem Zeitpunkt war mir noch völlig
unklar gewesen, welche Rolle ich in
diesem Projekt genau einnehmen sollte.
Meine Erfahrungen mit dem Theater
erschöpften sich bis dahin in kleineren
Rollen in Kindergarten- und Grundschulaufführungen
bzw. im gelegentlichen
Besuch einer professionellen Einrichtung.
Mit einer gewissen Ahnungslosigkeit
und der vagen Hoffnung,
nicht selbst als Schauspieler agieren zu
müssen, nahm ich an diesem Treffen
im Herbst teil. Wie in das sprichwörtliche
kalte Wasser geworfen fühlte ich
mich, galt es doch schon recht bald,
kleinere Szenen zu entwickeln und
aufzuführen. Doch diese Etappe war
erstaunlich schnell bezwungen und es
ging zunächst darum, zwei Szenen zu
bil- den.
Dies ist eine gute Gelegenheit,
dem geneigten Leser
einige Dinge zum Kieztheater
Kreuzberg zu sagen. Es handelt
sich dabei nämlich um eine
Gruppe, die mit der Methode
des Forumtheaters arbeitet.
Diese wurde
in den 70er Jahren
des zwanzigsten Jahrhunderts von dem
brasilianischen Theatertheoretiker Augusto
Boal entwickelt. Wie der Titel seines
Buches „Theater der Unterdrückten”
schon andeutet, ist die zentrale
Figur in Forumtheater-Stücken eine
unterdrückte Person. Diese kann ihre
Wünsche nicht verwirklichen, weil sie
durch unterdrückende Figuren daran
gehindert wird. In einem ersten Durchlauf
sieht sich das Publikum das Stück
an – so weit nicht ungewöhnlich. Doch
hinterher wird das Publikum von einem
„Joker” genannten Moderator zu der
Szene befragt. Es ist sodann dazu aufgerufen,
selbst in die Szene hineinzugehen
und beteiligte Figuren zu ersetzen.
Dadurch soll möglichst ein alternativer
Ausgang der Szene probiert und damit
eigene Anteile, Möglichkeiten und Ansatzpunkte
der Veränderung sichtbar
gemacht werden. So kommen immer
wieder neue Lösungsansätze zum Vorschein,
die dann von neuem diskutiert
werden.
Im Laufe des Probenwochenendes wurden
also zwei unterschiedliche Szenen
entwickelt, immer wieder probiert und
bearbeitet. Die erste Szene spielt in einer
Firma. Der Chef hat sich nicht lumpen
lassen und einen Scheck mit hoher
Summe ausgestellt. Das Geld soll zu
Zwecken des Teambuildings für einen
Betriebsausflug genutzt werden. In den
letzten Jahren ging es immer auf eine
Dampferfahrt auf dem Wannsee. Eine
Seefahrt, die ist lustig; darüber herrscht
Einigkeit unter den Kollegen. Dennoch
möchten einige in diesem Jahr etwas
anderes unternehmen, zumal die Summe
des vom Chef spendierten Geldes
dieses Mal besonders hoch ist. Und sie
haben sich bereits Gedanken darüber
gemacht, wohin es gehen könnte: In
einen Klettergarten! Die Begeisterung
über diesen Vorschlag ist groß, da meldet
sich plötzlich Paul zu Wort und gibt
zu bedenken, dass er auf Grund seiner
Behinderung nicht mitkommen könne.
Betretenes Schweigen – doch nicht lange.
Schließlich werfen die Kollegen ein,
dass es doch ein tolles Büfett gebe und
ein Fotograf auch noch benötigt werde.
Um die Sache abzukürzen, besinnt
sich die Mitarbeiterschaft auf demokratische
Gepflogenheiten und erstellt
ein Stimmungsbild auf dass die
Mehrheit bestimmen möge, wo es hingehen
soll. Wenig überraschend gibt
es eine Gegenstimme zum Klettergartenvorschlag.
Doch nicht etwa Paul ist
der „Spielverderber“, sondern Andreas,
der allseits geschätzte Kollege, mit
dem man auch nach Feierabend mal
noch Einen trinken gehen kann. Ausgerechnet
er gibt an, Höhenangst zu haben!
Die Gruppe ist wieder nicht in der
Lage, auf diese neue Situation einzugehen,
es bleibt bei der Idee des Klettergartens.
Die Situation eskaliert und Andreas
verlässt wütend den Raum. Der
behinderte Paul dagegen ist “bestens
integriert“ und kommt mit. Auch wenn
er eigentlich keinen Bock darauf hat,
„unten zu bleiben und Fotos zu schießen”,
wie eine Kollegin vorschlägt.
In der zweiten Szene wird die Odyssee
einer behinderten Frau auf der Suche
nach Arbeit nachgezeichnet. Mit
zwei Hochschulabschlüssen und diversen
Praktika ist sie sehr gut qualifiziert.
Doch sobald ihre Behinderung bekannt
wird, die selbstverständlich in der Bewerbung
Erwähnung findet, wird sie
abgewiesen und vertröstet. Selbst der
fast schon unterschriebene Arbeitsvertrag
in der Werbeagentur landet im Papierkorb.
Der Bankkredit als Basis für
die eigene Firma platzt ebenfalls.
Beide Abende waren gut besucht. Das
Publikum zeigte sich spielfreudig und
fand immer wieder neue Lösungsansätze.
Zwei rundum gelungene Abende
im Zeichen des Monkalbs. Wieviel
die beiden Abende eingebracht haben,
wird an dieser Stelle nicht verraten. Es
sei aber versichert, dass das Geld gut
angelegt ist. Schließlich führte uns der
letzte Betriebsausflug ins schöne Liechtenstein.
Äh, Lichtenberg…

Jan Plöger

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