We’re here to rock some assumptions

In Toronto, wo ich vor kurzem zwei Auslandssemester verbrachte, lernte ich Loree kennen. Sie arbeitet schon lange Zeit politisch und theoretisch zu Behinderung. Auf meine Frage nach dem Grund antwortet sie: „You don’t really have a choice. You’re gonna have to deal with it in one way or another, it’s gonna affect you somehow at some point in your life.”
Wenn es stimmt, dass niemand die Wahl hat, sondern Behinderung immer und überall da ist, liegt es nah zu fragen, was Behinderung eigentlich ist. Was sind die Annahmen über Behinderung, die es kaputtzumachen gilt? Was passiert politisch und institutionell? Wie ist das historisch entstanden? Was sind die wichtigen Kämpfe? Alle diese Fragen stehen im Zusammenhang mit den Körpern einzelner Menschen und den Möglichkeiten, die sich für sie öffnen oder schließen. Die Welt ist nicht gebaut für Körper, die unterschiedlich funktionieren, sondern für weitgehend als normal erachtete. Genau so funktionieren auch Sprache und Denken: Alles, was ich hier schreibe, formuliere ich mit einer Sprache, in der Behinderung eine bestimmte Bedeutung hat. Und wer meinen Text liest, hat auch eine Vorstellung davon, was Behinderung ist, oder nicht ist. Ist es etwas, was jede_r gerne hätte? Oder ist es eher unerwünscht und ein zu überwindendes Leid? Ok, aber gut, wer liest denn hier eigentlich meinen Artikel? Behinderte? Nichtbehinderte? Sind Nichtbehinderte nicht sowieso eigentlich eher Späterbehinderte? Schließlich werden wir alle früher oder später behindert, sollten wir lange genug leben. Die Disability Studies bieten vielleicht ein paar Fragen und Gedanken für die politische Praxis.
Die akademische Beschäftigung mit Behinderung in Nordamerika ist nicht neu, ändert sich aber beständig und im Zusammenhang mit politischen Kämpfen. Zunächst wurde Behinderung lange im medizinischen Kontext als individueller Mangel konzeptioniert. Wenn eine Person in Rollstuhl nicht in ein Haus kommt, das viele Treppen hat, dann liegt das eben daran, dass diese Person keine funktionierenden Beine habe, hätten Vertreter_innen dieses Modells argumentiert. Als Kritik daran entstand in den 70er Jahren das social model of disability. Es besagt, dass die Behinderung nicht in den Beinen liegt, sondern in den Treppen. Die Körper Einzelner sind hier im Zusammenhang mit ihrer sozialen und materiellen Umwelt zu verstehen und nur in diesem Zusammenhang stellen sie sich als problematisch dar. Das bedeutet für die social model Freund_innen, dass sich diese Umwelt ändern muss und in diesem – natürlich guten – Projekt wird schon mal vergessen, von wem das überhaupt gefordert wird. Dem Staat? Gutmeinenden Organisationen? Gab es an denen nicht auch mal Kritik? Na gut, es gibt also noch Kritik an der Kritik und die geht noch ein bisschen weiter: Zurück zu meinem Beispiel. Eine Person im Rollstuhl kommt nicht in ein Haus und Schuld ist die Treppe. Kritiker_innen des social model betonen jetzt, dass ja immer noch angenommen würde, es gebe sowas wie unveränderliche, biologische, körperliche ‚Fakten’, die Grundlage für Erfahrung und Selbstwahrnehmung seien. Natürlich geht es nicht darum zu behaupten, der Rollstuhl sei überflüssig und die Person könne in Wirklichkeit laufen. Es ist eher eine Verschiebung in der Frageperspektive. Leute in den Disability Studies heute beschäftigen sich oft damit zu untersuchen, wie es überhaupt erst dazu kommt, dass bestimmte Körper als behindert wahrgenommen und erlebt werden und andere nicht. Sie fragen, wie Normalität hergestellt wird, denn nichts ist einfach so und von Natur aus normal.
Dass Disability Studies hauptsächlich an Universitäten stattfinden, die viele Menschen von vornherein von ihren Diskussionen ausschließen (hohe Studiengebühren sind nur einer der Gründe), ist natürlich ärgerlich. Es liegen hier aber auch Möglichkeiten: So kann in den Disability Studies entstandenes Wissen hilfreich sein und eine kritische Perspektive ermöglichen. Wir können lernen, darüber nachzudenken, wie verschiedene Körper unterschiedlich erlebt werden und was das zu tun hat mit der Welt, in der wir leben. Es ist kein Zufall, welche Körper als behindert erscheinen und welche nicht, und beide Kategorien brauchen einander, damit sie Sinn machen. Und gleichzeitig machen sie doch auch irgendwie nicht so richtig Sinn, denn schließlich gibt es ja niemanden, der niemals behindert wäre.
So wichtig es ist, für die politische Gleichberechtigung Behinderter und Barrierefreiheit zu kämpfen, ich würde sagen: Es lohnt sich, noch weiter zu denken. Auch wenn es zwischendurch einen Gedankenwust produziert. Ich glaube, es macht Sinn ein paar Fragen zu stellen, auch wenn wir die Antworten nicht sofort wissen: Was denken wir, was Behinderung ist? Was weiß die Welt um uns herum über Behinderung? Und warum ist das gerade so? Wie existiert welches Konzept von Behinderung in welchem Kontext? Sowohl theoretisch als auch alltagspraktisch kann Behinderung hervorheben, wie Normalität funktioniert. Behinderung ist gerade nicht das, was am besten nicht da wäre.

Carola Pohlen

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