Wo Utopia liegt: Im Argen

Spätestens seit dem Ende des sozialistischen Lagers und der damit verbundenen Krise linken Denkens und linker Bewegungen ist immer wieder der Ruf nach einer neuen Utopie zu hören. Offenbar scheint die alte durch den realexistierenden Sozialismus dermaßen an Attraktivität verloren zu haben, dass sie als historischer Hoffnungshorizont nicht mehr taugt.
Vom Wortsinn her stellt die Verwirklichung einer Utopie einen Widerspruch in sich dar: “u topos” ist griechisch und heißt “kein Ort”. Eine verwirklichte Utopie muss ja an konkreten Orten erfolgen und ist somit ihres utopischen Charakters enthoben, d.h. die hehren Ideale müssen sich in der Realität bewähren.
„Utopia“ ist das bekannteste Werk von Thomas Morus, erschienen 1516 in Flamen. In ihm schildert er den idealen Staat, eine Vision der Moderne, eine bis dahin undenkbare Mischung aus Technologie, Überwachung und Disziplinierung. So utopisch Morus´ Vorstellungen vom kontrollierten Bürger vor 500 Jahren noch wirkten, sie fanden spätestens im letzten Jahrhundert viele Orte der Verwirklichung. Gestapo, KGB oder Stasi, die Bestrebungen des derzeitigen Innenministers, das Grundgesetz zu unterlaufen, sind ebenso beredte Zeugnisse davon wie die Möglichkeiten der Überwachung von Internetnutzern.
Ernst Bloch, ein marxistischer Philosoph, schrieb in den 30er und 40er Jahren im Exil sein Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ und veröffentlichte es in den 50er und 60er Jahren in der DDR. Er fiel dort bald in Ungnade, war aber geistesgegenwärtig und privilegiert genug, von einem Ausflug in den Westen nicht zurückzukehren. So spielte er in den Dogmen des östlichen Imperiums fortan keine Rolle mehr. Dafür aber wurde sein Werk in den Kanon der linksalternativen Bewegungen des Westens erhoben. Erst durch ihn bekam der Begriff der Utopie die Bedeutung, die er heute noch hat.
Als zwei wesentliche soziale Utopien führt er u.a. das Urchristentum und den Kommunismus an. Ihm zufolge stehen soziale Utopien in einer die Jahrtausende durchziehenden Kontinuität. Im Gegensatz zu vorfindlichen Gesellschaftsbildern gehen sie von der gleichen Bewertung jedes Menschen aus. Unterschiede aufgrund von Besitz oder Herkunft werden nicht akzeptiert und letztlich aufgehoben. Die urchristlichen Gemeinden im alten Rom praktizierten vielerorts einen konsequenten weitgehend hierarchiefreien Kommunismus. Wer begütert war, unterstützte die Armen – und das nicht nur mit Almosen. Reiche Leute verkauften ihre Häuser und Ländereien und stellten den Erlös der Gemeinde zur Verfügung. Keiner musste mehr hungern oder frieren oder im Krankheitsfall dahinsiechen. In den nächsten zwei Jahrtausenden prägte das Christentum die Geschichte Europas und bald auch der Welt. Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit in der Nachfolge Christi waren in der kirchlichen Wirklichkeit kaum mehr zu finden. Im Namen des Erlösers wurden Länder okkupiert, Kulturen vernichtet, Andersglaubende verfolgt und Machtpolitik betrieben. Doch der utopische Kern blieb in allen Zeiten erhalten. Er hat u.a. immer wieder Gemeinschaften hervorgebracht, deren Mitglieder die Nähe zu Gott in der Nähe zum Menschen suchten und die deshalb bestehende Schranken aufhoben. Im System integrierte klösterliche Gemeinschaften gehörten ebenso dazu wie die bis aufs Blut verfolgten Schwärmer und Ketzer, etwa die Wiedertäufer aus den Bauernkriegen. Als vor zweihundert Jahren durch die sich ausbreitende Industrialisierung ein Heer von sozial Schwachen entstand, weil plötzlich jeder ins kapitalistische Produktionssystem passen musste und in den Familien kaum noch Ressourcen frei waren, sich um Bedürftige zu kümmern, fanden zuerst die großen Kirchen eine Antwort. Sie bauten Anstalten für Arbeitsscheue, Krüppel, Blinde, gefallene Mädchen, Trinker oder Idioten. Alles, was nicht passte, wurde interniert. Gleichzeitig hatten die Ärmsten der Armen ein Dach überm Kopf, eine Suppe im Magen und vor allem das Gefühl, einen Wert zu haben. Letztlich baut die aktuelle Sozialpolitik und öffentliche Fürsorge noch immer auf dieser Utopie auf.
Auch die Idee des Kommunismus hat diesen utopischen Kern der Idee der Gleichheit aller Menschen. Sie entstand in derselben Zeit wie die Anstalten von Caritas und Diakonie. Die Fragen der Industrialisierung beantwortet sie auf ökonomischer Basis. Die Produktionsmittel sollten nicht mehr Einzelnen gehören, sondern der Gesamtheit. Einzelnen Wenigen sollte es unmöglich gemacht werden, sich an der Arbeit Anderer zu bereichern. Die Armut und Ausbeutung der arbeitenden Massen sollte so abgeschafft werden. Die Umsetztung der utopischen Staatsidee begann vor 90 Jahren in Petrograd mit einem Putsch, der fortan „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ genannt wurde, und scheiterte noch im selben Jahrhundert.
Auch im Westen kamen die Ideen des Marxismus in der Wirklichkeit an. Eine revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse fand nicht statt, aber die Verhältnisse wurden zum Tanzen gebracht. Die 68er weichten die starren bürgerlichen Normen auf und schufen kulturelle und ökonomische Freiräume. Benachteiligte und diskriminierte Gruppen wiesen auf das Unrecht hin, das ihnen geschah, und forderten Rechte ein. Auch behinderte Bürger fanden sich in einer emanzipatorischen Bewegung zusammen. Sie entwickelten in den siebziger Jahren die Utopie, dass Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, nicht mehr zum Objekt einer herablassenden Fürsorge degradiert werden, sondern diese Hilfen nach ihren Bedürfnissen selbstbestimmt gestalten. Heute findet sie Eingang in die Sozialgesetzgebung, z.B. mit dem persönlichen Budget. Behinderte bekommen hier Geld in die Hand, mit dem sie die von ihnen benötigten Hilfen jenseits vom Heim oder anderen Bevormundungen nach eigenem Ermessen für sich umsetzen. Als Nebeneffekt erwartet der Gesetzgeber eine Senkung der Kosten. Damit hat er ein Instrument zum Dumping von Entgelten und Löhnen geschaffen.
Auch der seit Jahren stattfindende Abbau des Sozialstaates ist eine verwirklichte Utopie: die des Neoliberalismus, der Idee vom freien Spiel der Kräfte. Wenn sie weiter greift, wird ein selbstbestimmter Mensch mit Behinderung in 25 Jahren auch mit persönlichem Budget wesentlich unterversorgter und deshalb isolierter sein als ein Heimkrüppel der 80er Jahre.
Das Ideal des Neoliberalismus ist der Starke. Im Gegensatz zu ihm müsste im Zentrum einer sozialen Utopie der Schwache stehen. Doch auch hier finden sich Helden: der Kämpfer der Revolution, der Held der Arbeit, der sich anarchisch verwirklichende Übermensch oder der Hedonist. Selbst im christlichen Bereich findet sich der Kämpfer des Glaubens und der standhafte Asket, auch wenn sich der christliche Erlöser nur schwerlich als Held sehen lässt. Ein junger Mann aus ärmlichen Verhältnissen wird hingerichtet – das ist nach christlicher Auffassung das Heil der Welt. In Christus kommt Gott den Menschen nahe. Dazu muss er schwach und sterblich sein wie sie. Der Messias wird schon Jahrhunderte zuvor im Buch Jesaja als der Allerschwächste und Verachtetste angekündigt.
Wenn wir schon eine neue Utopie brauchen, vielleicht sollte es eine sein, die nicht Leistung, Unabhängigkeit, Stärke und Genuss idealisiert, sondern die Verletzlichkeit, das Unvermögen und die Schwäche ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. In Zukunft werden viel mehr Menschen als bisher alt, hilfeabhängig und behindert sein. Behinderung und chronische Krankheit gehören schon jetzt zum biografischen Horizont eines Jeden. Noch kommen uns diese Prognosen düster vor. Eine neue Utopie würde sie in einem helleren Licht erscheinen lassen.

von Matthias Vernaldi

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