Über das Defizitäre eines Lebens ohne Behinderung

Ende letzten Jahres kochte mal wieder kurz die Frage hoch, ob man über Behinderte Witze machen darf. Anlass war ein nicht sonderlich gelungener Witz über einen blinden Fußballer in der taz vom 30. November. Selbst „Spiegel Online“ war die Debatte einen Beitrag wert.

Wir werden die olle Soße vom letzten Jahr nicht noch einmal aufwärmen. Stattdessen fragen wir:

Darf man über Nichtbehinderte Witze machen?

Seit ein paar Jahren gelten ja auch Leute als behindert, wenn sie in der Schule dissoziales Verhalten zeigen, im Alter pflegebedürftig werden oder ein Tourette-Syndrom mittlerer Stärke an den Tag legen, das in einer Hellersdorfer Nachbarschaftinitiative zum Schutz der Heimat und der Kinder nicht auffallen würde. Wenn man also auch diese gar nicht so richtig behinderten Bürger von der Masse der nichtbehinderten abzieht, stellen sie immer noch den Großteil der Bevölkerung. Es ist der Teil, aus dem sich die Leistungsfähigen rekrutieren, die die nötigen Hilfen sowohl als Fach- und Hilfskräfte erbringen als auch als Steuerzahler finanzieren – nicht wenige von ihnen sind also doppelt angearscht. Wie zynisch muss man sein, da noch zu lachen!

Und wenn sie nun nach einem schweren Arbeitstag von dem bisschen Geld, was man ihnen lässt, kurz vor Ladenschluss noch Einkäufe tätigen müssen, sind die wenigen freien Parkplätze für Menschen im Rollstuhl reserviert. Das nähmen die meisten noch ohne Bitternis hin, wenn es nicht viel weitreichendere Ungleichbehandlungen gegenüber Menschen mit Behinderungen gäbe, die zum Scheitern ganzer Lebensentwürfe führen können.

Niemand streicht ihnen im Supermarkt, im Straßencafé oder im Kino einfach mal so im Vorübergehen über den Kopf.

Diese Geste bedingungsloser Annahme durch Unbekannte bleibt ihnen versagt. Dabei transportiert sie doch schlicht und augenfällig das grundsätzliche Ja zum Dasein, ohne das wir letztlich in der Negation allen Seins landen. Ganz im Gegenteil: Wenn sie am heimischen Kaffeetisch, gar im Restaurant kleckern, nehmen es ihnen sogar nahe Verwandte übel, selbstverständlich auch die Gäste am Nebentisch. Einem Menschen mit spastischer Lähmung erschließen sich in solchen Fällen ganz andere Toleranzräume.
Besonders tragisch ist die Gefahr, dass sie die wahre Liebe in ihrem Leben nie kennen lernen werden. Sehr häufig werden sie als Sexual- und Lebenspartner nur wegen ihres attraktiven und leistungsfähigen Körpers ausgewählt. Ihre Persönlichkeit, ihr Gefühlsleben, ihr Wesen spielt nur eine nachgeordnete Rolle. Natürlich merken sie das bald und die Partnerschaften gehen in die Brüche. Irgendwann gibt es dann doch die Partner, die es schaffen, sie genetisch auszunutzen und gemeinsamen Nachwuchs zu produzieren. Der emotionale und finanzielle Aufwand für die daraus resultierenden Trennungen ist enorm. Und es wird nicht einmal im Ansatz über einen Nachteilsausgleich nachgedacht!

Es verbietet sich also, über Nichtbehinderte Witze zu machen.

Sie haben es schwer genug. Und – es kommt noch schlimmer: über Nichtbehinderte kann man gar keine Witze machen. Ein Witz funktioniert über das Defizitäre, das Unvermögen, das Anderssein. Hier liegt jedoch gleichzeitig auch die Chance für unsere nichtbehinderten Leistungsträger. Soeben wurde ja aufgezeigt, wie defizitär sich ihre Situation darstellt.

Sie müssen bei einem Party-Smalltalk, wo der eine sagt, er habe Parkinson, und die andere, sie habe Depressionen, nicht unbedingt sagen: „Ich habe nichts.“ Das hebt doch schon auf die umfassende Armseligkeit ihrer Existenz ab. „Mir fehlt nichts“, kommt da schon ganz anders – vor allem im Beisein von Partygästen mit Amputationen.

P. R. Iapos

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