Die Eiterbeule

Ich erinnere mich, dass ich mit Jana in Berlin war, als der Anruf kam. Seit einem Jahr waren wir sehr oft hier – so oft, dass es in der Kommune auf dem Land in Thüringen, wo wir eigentlich wohnten, gelegentlich schon schlechte Stimmung gab deswegen. Wir hatten uns bei einem Freund eingemietet – 100 Mark für eines der drei Zimmer seiner Wohnung im Hochpaterre direkt am U-Bahnhof. Es hatte kaum mehr als 10 Quadratmeter und lag zur Straße hinaus. Vom Bahnsteig der Hochbahn konnte man direkt in unser Bett sehen. Zu dieser Zeit schliefen Jana und ich jede Nacht eng aneinander geschmiegt. Wir waren so miteinander verwachsen, dass wir auch im Schlaf ein Leib waren. Sie lag mir zugewandt an meiner Linken, ihr Knie unter meines geschoben, einen Arm auf meinem Oberkörper. Auch wenn sie sich während der Nacht wegdrehte, kam mein linkes Bein immer wieder auf ihrem Schenkel oder Hintern zu liegen, so dass es gut abgestützt blieb und ich schlafen konnte. Noch nie war es vorgekommen, dass durch ihre Bewegungen das Bein überstreckt oder die Hand verrenkt worden wäre. Wenn ich mich zur Seite legen oder wieder auf den Rücken drehen lassen musste, tat sie das, ohne zu erwachen. Ihre Muskeln übernahmen die Funktionen meiner fehlenden Muskulatur. Das geschah nach etwa 900 gemeinsamen Nächten beinahe nebenbei – auch im Schlaf.
Wir saßen in der Küche unseres Freundes beim Frühstück. Es war Mitte August. Ein kalter Wind trieb Nieselregen durch die Straßen. Der Sommer 93 würde wohl ausfallen. Dieser Wahrheit müsse man sich spätestens jetzt stellen, konstatierte ich. Da klingelte das Telefon.
Unser Freund ging ins Wohnzimmer, um abzunehmen. Er kam mit aufgeregter Miene zurück: „Für dich – die Gauckbehörde“. Die Gauckbehörde hatte eine warme weibliche Stimme, die sächselte. Ich könnte ab sofort zur Akteneinsicht in der Leipziger Nebenstelle erscheinen.
Das verdankte ich dem neuen Arzt aus dem Nachbardorf. Nicht einmal einen Dr. hatte er. Die LPG-Weiber redeten ihn trotzdem mit „Herr Dr.“ an und waren hingerissen von dem charmanten Burschen. Ich konnte ihm die Besonderheiten meines Körpers erklären und Therapien vorschlagen, ohne dass er sich in seiner Medizinerehre verletzt gefühlt hätte. Er war offen und nett und machte vor allem, was ich wollte. Auch die von mir formulierte Bescheinigung für die Gauckbehörde unterschrieb er anstandslos. In ihr stand, dass sich mein Muskelschwund im Endstadium befände, ich mich also am Rande des Todes bewegte. Ein starker Hustenanfall oder eine der üblichen Kreislaufschwächen könnten schon das Ende für mich bedeuten.
Ich lebte damals schon 20 Jahre mit solchen Aussichten. Die Ärzte hatten es nicht mir direkt, aber meinen Eltern und später dann auch dem Heimerzieher gesagt, dass ich nicht viel älter als 25 würde, wahrscheinlich schon am Ende der Pubertät stürbe, so dass ich schon mit 14 begonnen hatte, mein ziemlich nahes Ende zu realisieren. Dass das von den Fachleuten prognostizierte Höchstalter nun bereits weit hinter mir lag, war sicher damit zu erklären, dass ich nicht in irgendeinem Heim dahinvegetieren musste. In der Wohngemeinschaft bestimmte ich meinen Alltag selbst, weil immer jemand da war – seit mehr als zwei Jahren meist Jana.
Trotzdem: Auch wenn ich noch ein paar Jahre haben sollte, weil es Leute gab, die mir mit der Kraft ihrer Arme beim Abhusten halfen, wenn ich erkältet war, oder weil mein Blut vom Duft der Haut meiner Liebsten in Wallung geriet – ge­nauso gut konnte ich morgen tot sein. Und warum solch Aussicht nicht nutzen zur Einsicht? Zur Akteneinsicht, die auf der Wartespur im Stau der Antragsteller erst in vier oder fünf Jahren zustande ­gekommen wäre, auf der Überholspur für Todeskandidaten aber schon in weniger als zwanzig Monaten möglich war.
Beim Telefonieren spürte ich ein Ziehen an der rechten Hälfte meiner Kinn­lade. Die Aufregung schien mir am Hals zu zerren. Ich verabredete einen Termin in der nächsten Woche. Nachdem Jana mir den Hörer aus der Hand genommen und aufgelegt hatte, war das Ziehen immer noch da. Ich ertastete unterm Bart einen Pickel, der ziemlich wehtat und sich ganz heiß anfühlte.
Zwei Tage später waren Jana und ich zurück in der Wohngemeinschaft. Von hier aus wollte ich dann weiter nach Leipzig. Die Akteneinsicht war in den Tagen zuvor das Thema in der Gruppe, zumindest bei denen, die noch aus der Zeit vor der Wende da waren. Immerhin sollte ich in eine Art Ta­gebuch über mich und die Wohn­gemeinschaft Einblick erhalten, das aus feindlichen Motiven heraus angelegt und geführt worden war. Wie wurden wir aus diesem Blickwinkel gesehen? Was war geplant, in­szeniert oder verhindert worden? Wer waren unsere IM? Welche bereits ver­gessenen Geschichten werden mir nun in den Akten wiederbegeg­nen?
Jetzt, im Nachhinein, war es völlig klar, dass wir im Visier der Stasi gestanden hatten. Ende der 70er hatten wir als ganz junge Leute diese Kommune gegründet – in der DDR, in der Provinz, und dann auch noch mit zum Teil schwerbehinderten Mitgliedern, die die Hilfen, die sie benötigten, von den anderen aus der Gruppe bekamen. Im Nu war die Kommune ein Anlaufpunkt für Hippies, Alternative, Friedensbewegte, Künstler und Punks geworden. Entsprechend hochfliegende Ideen, wilde Feten und utopische Liebschaften erfüllten dann auch bald unsere Räume und Herzen. Jetzt, im Nachhinein, war es irgendwie sogar eine Auszeichnung, von denen als gefährlich eingeschätzt worden zu sein. Aber damals war uns jedesmal extrem beklommen zu Mute, wenn irgendetwas daraufhin wies, dass wir beobachtet würden.
Eigentlich hätte jeder aus der Gruppe seine eigene Akteneinsicht bekommen müssen. Aber die Wohngemeinschaft wurde unter meinem Namen geführt und ich war nun auch der, der zuerst herankam. Wahrscheinlich, so wurde uns aus der Leipziger Behörde signalisiert, könnte ich Kopien der gesamten Akten über die Wohngemeinschaft bekommen. Es könne lediglich etwas dauern, weil das Schwärzen so aufwändig wäre.
Jana schaute auf mein Bitten hin mehrmals am Tag unter meinem Kinn nach. Der Pickel wuchs sich zu einer hühnereigroßen Beule aus, die eine stinkende Flüssigkeit absonderte und deren Haut straff gespannt war. Am Vorabend der Akteneinsicht lag ich fieberge­schüttelt in der Wohnung unserer Leipziger Freunde. Jana drängte mich, mich am nächsten Morgen zum Arzt zu begeben. Davon wollte ich nichts wissen. Die Akteneinsicht hatte Priorität.
Für Jana war es seltsam, welch großes Gewicht diesem Termin gegeben wurde. Sie war zur Wende erst 16. Das ging sie alles nichts so richtig an. Trotzdem musste sie nun mit mir nach Leipzig fahren. Keiner aus der Wohngemeinschaft hatte Zeit.
Sie fand es blöd, dass sie nur, weil wir zusammen waren, mit mir diese Reise machen musste. Überhaupt kotzte es sie immer mehr an, dass die anderen in der Gruppe ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass sie die Sachen machte, die mich betrafen. So hatte sie auch meine ganze Pflege am Hals, wenn wir nicht unterwegs waren, obwohl die anderen mich – wie in den Zeiten, bevor wir ein Paar waren – auch aufs Klo bringen oder baden konnten. Wenn sie es einforderte, reagierte man befremdet. Sie verlor an Sympathie.
Die Akten waren in zwei Tagen nicht zu bewältigen. Es gab sieben Bände. Noch einige Tage mehr in Leipzig zu bleiben, war vor allem deshalb nicht drin, weil die Eiterbeule immer heftiger drückte, sottete und mich fie­bern ließ. Ich konnte aber veranlassen, dass die Akten in die Außenstelle nach Gera geschickt wurden, die für mich von zu Hause aus­ erreichbar war.
Die Lektüre der beiden Tage in Leipzig hatte neben vielen anderen doch einen Menschen als IM ans Licht gebracht, dem ich mich nahe fühlte: Dr. Leeken, ein alter Arzt, der uns über 15 Jahre regelmäßig besucht hatte. Es hatte kaum etwas gegeben, was wir ihn nicht anver­traut hätten. So fand sich alles in den Akten wieder: Neue Freunde und Aktionskreise, Termine, Lieb­schaften, Krankheiten und Medikamente, meine Meinung zur Statio­nierung von SS20-Raketen und zur Pfarrfrau des Nachbardorfes, all­gemeine finanzielle Probleme und meine dicken Füße, „unausgeformt wie bei einem Kleinkind“.
Und den hatte ich über die Jahre immer mehr ins Herz geschlossen! Wie oft war er am Vormittag einfach ins Haus gekommen! Unsere Türen hatten ja immer offen gestanden. Nur wenn ich Termine hatte, hatte ich mich auch einmal vor 10 aus dem Bett holen lassen, meist aber erst mittags. So hatte er oft an meinem Bett gesessen und mich wachgeplaudert. Auch wenn ich nicht allein schlief, hatte er sich nicht davon abhalten lassen. Meist hatte das zu verwunderten bis empörten Reaktionen meiner Bettgenossinnen geführt, die er aber mit Komplimenten und Handküssen zu besänftigen gewusst hatte. Das konnte ich nun alles in meiner Akte wiederfinden.
Der Deckname des etwas kauzigen liberalen Opis war Dr. Walther. Das passte irgendwie zu dem vornehmen Herrn, der in seinen Briefen und selbst in seinen IM-Berichten „tun“ mit th und konzipieren ohne ie geschrieben hatte. Ihn als Arzt zu bemühen, hatte ich aber von vornherein vermieden. Es war sehr schnell deutlich geworden, dass er fachlich nicht besonders viel auf dem Kasten hatte. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er mir die Behandlungen verordnet hätte, die ich für nötig erachtet hatte. Er hatte aber eine Medizinerehre und zu viel Autarkie des Patienten führte zu Konflikten, die ich lieber gar nicht hatte aufkommen lassen wollen, denn die wachsende Sympathie dieses ungewöhnlichen Mannes war mir wichtig.
Die letzte Nacht in Leipzig konnte ich vor Beulenschmer­zen nicht schlafen. So fuhr ich auf dem Rückweg gar nicht erst nach Hause sondern sofort zum Chirurgen in die Kreisstadt. Der öffnete das Geschwür mit zwei kräftigen Schnitten und machte mir Hoffnungen, dass in drei Ta­gen alles vorbei sei. Er hieß Dr. Walther. Ich musste ihn noch mehrmals aufsuchen, weil die offene Beule dann doch nicht verheilen wollte.
Mit seinem Decknamensvetter traf ich mich drei Wochen nach der OP. Da eiterte die Wunde noch immer. Dr. Leeken war eiskalt, machte mich zum Verhörer und zeigte nie mehr als ihm abverlangt wurde. Jede Leutseligkeit war verschwun­den. Mir gegenüber saß ein Feind, der – so schien mir – mich ge­nauso einschätzte wie mein operativer Vorgang von der Stasi genannt worden war: „Parasit“. Schließlich machte er mir noch Vorwürfe, was wir uns wohl angemaßt hätten, soviel zu­sätzliche Unruhe ins kirchlich-staatliche Spannungsfeld zu brin­gen, anstatt angepaßt und stille uns zu freuen, dass wir überhaupt soetwas wie eine Wohngemeinschaft hingekriegt hätten. Vom Beginn seines Einsatzes bei uns erzählte er, dass der Chef der Kreisstelle ihn zu sich gerufen und gesagt hätte: „Gehen Sie hin zur Wohngemeinschaft und schneiden Sie diese Eiterbeule auf!“
Am Abend war meine Wunde verheilt.
Ich erinnere mich, dass Jana am anderen Morgen, als sie mir die Zähne putzte, zu mir sagte: „Schön, dass du gesund bist. Da kann ich guten Gewissens nach Berlin fahren.“
„Wir fahren nach Berlin?“ „Ich fahre nach Berlin.“

_Der Text erschien zuerst in: Karsten Krampitz, Markus Liske, Manja Präkels (Hrsg.) Kaltland. Eine Sammlung, 2011, Rotbuch, 14, 95 Euro._

Matthias Vernaldi

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