Paradiese

Im August 1987 erhielt der RIAS, der Sender der amerikanischen Militärverwaltung in Westberlin, den Text eines behinderten DDR-Bürgers, der die Eindrücke einer Reise in den Westsektor der Stadt schildert. Mondkalb dokumentiert eine leicht gekürzte Abschrift der Sendung. Das Volkspolizeirevier riecht nach Behörde. Nach Linonelum, Aktenstaub, nach Monotonie und verhaltenem Angstschweiß. Ich kann es kaum fassen. Der Beamte hält einen Reisepass für alle Staaten und Westberlin mit meinem Bild in der Hand. Nur noch meine Unterschrift ist nötig und ich gehöre zu den wenigen DDR-Bürgern, die in den Westen reisen können. Der Rollstuhl hat seine Vorteile. So will ich also die Welt erfahren, die mir wie den meisten meiner Mitbürger bisher nur aus dem Fernsehen und von den Berichten westlicher Freunde und östlicher Omas bekannt ist. Seit Jahren um eine kritische Haltung bemüht, muss ich mir eingestehen, dass auch bei mir das typische Vorurteil dem Westen gegenüber besteht, welches hier überall vorfindlich ist, bei Leuten, die nicht streng linientreu sind. Linientreue gibt es sowieso kaum in Reinkultur. Das Konsumparadies, das Szeneparadies, das Kulturparadies. „Mensch, wenn Du nach drüben fährst, bring doch für mich mal dies und das mit“. „Geh doch mal in den und den Film“. „Such doch mal die und die Gruppierung auf“, sagen alle, die wissen, dass ich fahren kann. Ich kann es kaum mehr erwarten. Alles wird so fantastisch werden. Tagträume kommen. Der nie selbst erfahrene Westen ist bei mir wie bei den meisten kein realer Ort, sondern Projektionsgrund aller unerfüllten Wünsche – das Paradies eben. Kritische Haltung, vernünftiges Denken und Realitätsnähe halten der Sehnsucht nach der besseren Welt nicht stand, sind nur intelektuelles Image.
Der Tag des Grenzübertritts ist endlich da. So aufgeregt wie jetzt war ich lange nicht. Der Keller des Bahnhofs Friedrichstraße, wo die behinderten Aus- und Einreisenden abgefertigt werden, ist mir vertraut, weil ich hier oft schon auf den Aufzug zum Ostbahnsteig gewartet habe. Nun warte ich auf die Passkontrolle. Ein dicker Hauptmann nimmt meine Papiere mit. Unendlich lange hat er sie in der Wachstube, schreibt, telefoniert, nimmt Anrufe entgegen. Wenn das alles mit mir zu tun hat? Hoffentlich geht alles gut. Meine Handflächen werden feucht. Das Herz bubbert. Devot lächelnd nehme ich meine Papiere von dem Fettwanst wieder entgegen. Da klingelt nochmal das Telefon in der alublechbeschlagenen Stube, in welcher er mit meinem Pass gerade eine Ewigkeit gewerkelt hatte. Mir stockt der Atem: Jetzt wird meine Westreise im letzten Moment doch noch vereitelt. Arrogant und mürrisch teilt der Polizist mir mit, dass ich noch ein wenig Geduld haben soll. Der Aufzug käme gleich. Aber gern habe ich Geduld, und wie ich sie habe, wenn ich nur fahren darf. So überfreundlich untertänig habe ich mich seit Kindertagen nicht mehr erlebt. Ich schäme mich, kaum dass der Dicke gegangen ist. Ich, dessen Stolz es ist, sich nicht von jedem Bullen ins Bockshorn jagen zu lassen. Der lieber zwei Stunden auf dem Revier verbringt als ungerecht behandelt zu werden.
Ein Glöckner von Notre Dame bedient den Aufzug. Wenn der sich in die S-Bahn Richtung Westkreuz setzen sollte, um nie wieder zu kommen, dann ist das kein Verlust, weder in ökonomischer noch in sonstiger Hinsicht meinen die Grenzorgane. Ich bin mir da nicht so sicher. Er ist die ideale Figur, dich auf die andere Seite zu bringen. Der Fährmann über den Hades oder Christopherus. Die Katakomben des Bahnhofs Friedrichstraße sind sein Raum, von ihm erfüllt und beseelt. Für die anderen sind sie nur Arbeitsplatz. Ohne dieses Faktotum wäre der Bahnhof Friedrichsstraße nicht das was er ist, würde ihm etwas Spezifisches fehlen. Denn Quasimodo passt besser an diesen Ort ineinander verschränkter Welten und fortgesetzter Grenzüberschreitungen, als jeder Uniformierte und jede Rot-Kreuz-Schwester.
Oben ist Westen. Eine Dame mit Hündchen kommt von der U-Bahn und mokiert sich beim S-Bahnfahrer, den sie zu kennen scheint, über eine Demonstration gegen Reagan, in welche sie geraten ist. Am Kiosk steht eine Schlange von Stadtstreichern, denn hier gibt es für zwei bis drei Mark Schnaps in Literflaschen zu kaufen. Die Verkaufsstelle gehört der Forum GmbH und der Gewinn kommt der DDR-Staatskasse zu Gute, deren Devisenmangel ja bekannt ist. So profitiert westliches Elend in Form von Alkoholdumpingpreisen an östlichen Deviseninteresssen. Fernzüge von und nach München, Nürnberg und Hamburg stehen auf dem anderen Bahnsteig, gut bewacht von Grenzern mit Gewehren. Über allem die zerfallende Fassade dieser End- und Anfangsstation zwischen beiden Deutschlands.
Die S-Bahn ist um eine Nuance komfortabler als ihre östlichen Schwestern, aber das bekannte Pressluftgeräusch und das „Zuurüüück-Bleiben!“ bei Abfahrt sind diesselben und erinnern mich daran, dass auch da, wo die Bahn mich hinbringt, Berlin ist. Nach kurzer Fahrt sind wir über die Mauer hinweg. Der Todesstreifen lässt sich vom Abteil aus genau ansehen. Was dann folgt, ist der Westen, soll immer noch Berlin sein. Es ist ein anderes Berlin. Glatter, komfortabler, von einer sanften, vereinnahmenden Gewalt. Wie ich an den Fassaden, Reklamen und Lichtern vorbeifahre, die Menschen im Waggon betrachte, die hauptsächlich Fassade zeigen, wie die Gebäude, weiß ich, dass ich nicht Berlin liebe, wie ich immer meinte, sondern Ost-Berlin, das mit dieser Stadt hier nicht viel mehr als Geografisches und Historisches gemein hat. Gerade das Geografische ist befremdlich. Später werde ich in der Nähe des Springer-Hochhauses an der Mauer stehen und die Hochhäuser der Leipziger Straße sehen, wo Freunde wohnen. Direkt hinter den Absperranlagen ist der Union-Verlag, zu dem man ohne Sondergenehmigung nicht weiter als bis zum Pförtner vordringen kann.
Über die Mauer hinweg immer wieder Vertrautes, Geliebtes. Wenige hundert Meter entfernt ist so etwas wie Heimat, und hier ist eine andere, fast fremde Welt. Die Seeburger führt tatsächlich nach Seeburg, das heißt die Richtung stimmt und war früher einmal sinnvoll. Aber jetzt ist da ein unüberwindliches Hindernis. Jetzt müssen die Papiere stimmen, und du musst den Grenzpunkt Staaken benutzen, wenn du nach Seeburg willst. Die Stadtansicht von Kreuzberg wird vom Fernsehturm genauso beherrscht wie die vom Prenzlauer Berg. Diese räumliche Nähe bei extremer Ferne berührt mich tief. Oft durchzieht meine Westberliner Nächte ein Traum. Ich habe große Sehnsucht nach meinen Freunden im Osten, deshalb verlasse ich vorzeitig West-Berlin. Kaum bin ich wieder im Osten, will ich wieder in den Westteil der Stadt, denn mir wird klar, dass ich kaum etwas von dem, das ich mir vorgestellt hatte, erleben konnte. Nun will ich zurück, kann aber nicht, weil mein Visum nur für die einmalige Ein- und Ausreise gilt. Aber ich entdecke an der Mauer einen Buchladen, über den man heimlich, ohne Pass, in den Westen gelangen kann. Sein Eingang liegt auf der DDR-Seite und sein Ausgang in West-Berlin. So komme ich wieder in den Westen, erschrecke aber zugleich darüber, weil mir klar wird, dass ich nun ein Flüchtling bin. Ich sorge mich um die Rückkehr und bin erleichtert darüber, dass auch sie über den Buchladen möglich ist. Alptraumhaft wechsele ich wieder und wieder die Seiten, nicht mehr wissend, wohin ich gehöre. Einziges Stück Heimat ist mir der nach beiden Seiten hin offene Buchladen.
Nicht nur im Traum macht sich Enttäuschung breit über dass, was ich erleben wollte. Keines der erwarteten Paradise ist vorfindlich. Nicht einmal das Konsumparadies. Zum Beispiel frage ich in zehn Läden nach grünem Haarspray, ohne Erfolg zu haben. In Ostberlin bekomme ich es dann im Intershop beim ersten Mal. Überhaupt empfinde ich die Einkäufe im Westen, wie im Osten als zeitaufwendig und nervig. Ich könnte mir vorstellen, mit genug Geld und ohne etwas konkretes zu wollen, durch die Läden zu schlendern und mich verführen zu lassen. Wenn man hingegen mit Zeit und Geld haushalten muss, wirkt das enorme Angebot eher frustrierend. Die meisten müssen haushalten merke ich immer deutlicher. Der Onkel aus dem Westen, der alle Wünsche erfüllt, ist eine dreiste, östliche Vereinnahmung dieses armen Mannes, der sich noch nicht einmal dagegen wehren kann, weil auch er überzeugt ist, dass er unendlich viel mehr Vorteile hat, als seine arme Ostverwandtschaft, die ein Leben ohne Bananen fristen muss. Anfangs genieße ich das große Angebot an Kneipen. In der DDR kann man von Glück reden, wenn man überhaupt Platz findet. Hinzu kommt noch der häufige Ärger, wenn es das, was man will, nicht gibt, obwohl es auf der Karte steht. Nach 24 Uhr hat kaum noch eine Gaststätte auf, die Kellner benehmen sich wie Polizisten oder Lehrer. Ausgehen kann zu Hause zu Schwerstarbeit werden, vor allem nach 22 Uhr. Hier ist es alles viel angenehmer. Aber es ist auch irgendwie alles nicht so interessant für mich. Kein Gespräch mit fremden Leuten findet statt, kein Besoffener, der den ganzen Laden durcheinanderbringt, krakeelt herum. Morgens komme ich aus den Lokalen, wie ich abends hineingegangen bin. Ohne neue Kontakte und besondere Erlebnisse, außer der Erfahrung, dass ein doppelter Weinbrand 8 DM und ein Steak 20 DM kosten. Vorausgesetzt es ist eine billige Wirtschaft. Bei uns sind das Preise von Luxus-Restaurants. Ich errechne mir, dass ich eine Menge Geld haben müsste, wollte ich hier so oft wie in der DDR in die Kneipe gehen. Auch das Szeneparadies ist direkt besehen nicht der Ort, den ich mir vorstellte. Hausbesetzer-, Sponti-, Punkszene sind am Absterben. Die sogenannten Emanzen haben die Mütterlichkeit entdeckt und die Umwelt- und Friedenskämpfer etablieren sich als parlamentarische Größe. Die westliche Jugend hopst hellblau und rosa gekleidet unpolitisch auf Diskotheken herum. Größere Probleme als mit der Freundin beziehungsweise mit dem Freund scheint es nicht mehr zu geben. Der Bundeskanzler ist doof, doch das hat keinerlei Konsequenzen. Es kommt darauf an, schick zu sein und eine Ausbildung zu haben. Angst vor der Zukunft war einst Angst vor dem Atomschlag oder der Umweltkatastrophe. Jetzt ist es Angst vor der persönlichen Arbeitslosigkeit und materieller Beschränktheit. Und politisch ist die Luft irgendwie raus bei den Leuten von der UFA-Fabrik und vom Mehringhof. Eine Utopie, welche die Sehnsüchte vieler vereint, unübersehbar im Alltag vorhanden, scheint es nicht mehr zu geben. Was wollen die paar linken Opas noch? Schick-sein ist in. Ein wenig mystisch, ein wenig punkig. Feeling á la Klaus Lage und Nena ist in. Denken und Tun ist out. Wer redet noch ernsthaft von Wohngemeinschaften. Von Action und freier Liebe, von Abrüstung und Ökologie. Die paar wenigen linken Opas halt. Selbst die können ihre Phrasen nicht mehr hören. Also konsumiere dich in den Himmel.
Die Faschisten kommen. „Türken raus!“ steht an jeder Wand, an jedem Scheißhaus. Wenn ich ein Türke wäre, wie würde ich mich angesichts solcher, die alltägliche Wirklichkeit durchziehender Schmierereien fühlen? Im Bus sitzt in unmittelbarer Nähe des Ausstiegs eine verschleierte Frau. Sechs junge Popper stehen dort und waren auf die nächste Haltestelle. Einer von ihnen reißt mit tückischem Blick zu der verschleierten Frau einen Türkenwitz. Die anderen lachen. Das Opfer reagiert nicht und schaut wie zuvor verschämt nach unten. „Ausländer raus“ rufen nun die Jungen, die es wieder einmal nötig zu haben scheinen, Herrenmenschen zu sein. Keiner sagt etwas. Auch ich nicht. In der DDR hätte ich es bei einer ähnlichen Gelegenheit sicher getan. Der Bus hält. Der mit der größten Fresse springt mit weitem Satz hinaus, reckt die Arme zum Himmel hoch und ruft: „Ich komme.“ Seine ganze Sehnsucht nach Leben steckt darin, die er selbst nicht richtig kennt und die immer wieder unterdrückt wird. Die verschleierte Frau muss es erleiden. Udo Lindenberg führt sein Programm „Götterhämmerung“ innerhalb einer Aktionswoche des DGB gegen Ausländerfeindlichkeit auf. Es ist viehisch laut, aber nicht viel los unter dem Publikum. Fast jede Dorfdisco in der DDR hat mehr Stimmung zu bieten. Bei uns wäre Udo die Sensation. Er würde ein überschäumendes, brodelndes Inferno auslösen. Auch der New Yorker Theatermacher, der Theater spielt wie Free-Jazz, hätte bei uns bei seinem ersten Auftritt sicher nicht nur fünf Zuschauer gehabt wie in der UFA-Fabrik. Der Grund hierfür liegt sicher in großen Teilen darin, dass im Osten Kultur Mangelware ist. Aber vielleicht auch daran, dass es eine breitere Sensibilität für Kunst gibt und dass nicht nur der geringeren Ablenkungsmöglichkeiten wegen. Als ich nach drei Wochen wieder in den Ostteil der Stadt zurückkehre, bin ich etwas sicherer auf Westberliner Pflaster beziehungsweise Asphalt. Und ich weiß, dass doch ein wenig anders ist, als es sich mir dargestellt hat. Vielleicht erfahre ich es das nächste Mal, falls mein Pass verlängert werden sollte. Gut ist, dass ich lachen kann, über meine Paradieserwartungen und ihre Enttäuschungen. Noch besser ist, dass ich das erste Mal in meinem Leben so eine Art Heimatgefühlt habe. Ich empfinde auf einmal, dass in der DDR mein Ort ist. Auch nicht schlecht sind die 60 Westmark in meiner Brieftasche. Im Westen sind das drei bis vier Bücher oder eine Nacht in der Kneipe mit Essen. Hier, zu Hause, werde ich sie schwarz gegen dreihundert Ostmark eintauschen. Davon kann ich bequem drei Wochen Leben oder ungefähr fünfzig Bücher kaufen oder zwanzigmal in die Kneipe gehen. Traurig stimmt mich, dass allen Leuten mit Ausreiseantrag dieses Erlebnis der Rückkehr nicht vergönnt ist. Für sie ist der Seitenwechsel eine Einbahnstraße. Auch wenn sie sich so fühlen sollten, als hätten sie unbedacht die Heimat gegen ein Paradies eingetauscht. Aber das existiert nur als Fiktion. Ich glaube, wenn alle DDR-Bürger in den Westen reisen könnten, wäre es nur ein Drittel der jetzigen Anzahl von Ausreisewilligen. Kaum bin ich wieder auf der Friedrichstraße geht nicht mehr alles glatt. Telefonieren erfordert wieder Geduld, auf den Aufzug wird wieder gewartet, die Straßen sind oft holprig und im Laden sagt die Verkäuferung gelangweilt: „Ham wa nich.“ Ich bin also wieder gefragt mit meiner Phantasie und mit meiner Menschlichkeit. Habe bekannten Boden unter den Rädern, auf dem ich gewohnt bin, mich zu bewegen. Blicke ich über die Mauer, sehe ich bekannte Gebäude. Wohnung von Freunden, Orte konkreten Erlebens. Diese räumliche Nähe bei extremer Ferne berührt mich tief.

Jango Ganeff

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