Knutsch! Einer dieser typischen Berliner Solipartys. Ein kahler Keller, brummende Bassboxen, stickige Luft, verschwitzte Leiber. Und nochmal: Knutsch! Zwei küssen sich in einer Nische am Rand der Tanzfläche. Eine Frau und ein Mann … und du bist schockiert! Musst wegschauen. Luftholen! Du kennst die beiden schon seit Jahren. Eigentlich seid ihr zusammen … also zusammen in einer Politgruppe. Also fast verheiratet: wöchentliche Gruppentreffen, Demos, gemeinsame Aktionen. Du dachtest immer, der Mann sei schwul und die Frau lesbisch oder halt bisexuell oder queer oder so ähnlich und jetzt erfährst du auf diese Art, auf dieser Party, dass sie zusammen sind. Heterosexuelles Coming-Out sozusagen. Und du fragst dich, was dich daran so verstört.
Ihr seid eine „queerfeministische Gruppe“. Ihr habt Euch die Köpfe darüber heiß geredet, warum Heterosexualität — also Liebe, Sex und Trallala zwischen Frauen und Männern — in der Gesellschaft als „normal“ gilt.
Warum Menschen immer Frauen oder Männer sein müssen? Warum Frauen auf Männer stehen sollen und umgekehrt? Und ihr habt zusammen davon geträumt, wie das alles ganz anders sein könnte, sein sollte. Noch einmal schaust du zu ihnen hinüber. Sie sehen dich nicht. Zärtlich flüstert sie ihm ins Ohr und streicht sanft über die Spange in seinem braunen, seitlich gescheitelten Haar.
Ihr seid eine „gemischte“ Gruppe: Männer, Frauen, lesbische, schwule, heterosexuelle und queere. Ihr dachtet: Wir wollen die Einteilung von Menschen in Geschlechter abschaffen! Wir wollen, dass es nicht mehr wichtig ist, wer wen liebt – Frauen Männer, Männer Männer oder Frauen Frauen. Wir wollten, dass Identität, dieses ganze Einteilen von Menschen in Schubladen aufhört.
Er nimmt ihre Hand und zieht Sie zu sich heran.
Das Private ist politisch! Dieser Satz fiel mehr als einmal. Nur über euer Privatleben habt ihr nie geredet.
Andererseits – was ist eigentlich das Problem? Es hätte doch nichts geändert, schließlich seid ihr eine offene, eine gemischte Gruppe. Hätte es nichts geändert? Wart ihr offen? … und wie gemischt seid ihr, fragst du dich nach diesem heterosexuellen Coming-Out. Wer sind eigentlich die anderen?
Ihr wolltet diese ganzen Schubladen nie benutzen, euch nicht in diese kleinen Szeneghettos sperren. Denn so habt ihr euch die Szene der 1980er Jahre immer vorgestellt: Wir als Frauen-Lesbengruppen in lila Latzhosen hier, wir als Schwule in schwarzen Lederhosen da und gegenüber die Gruppen, die einfach ein Thema im Namen hatten und in denen weiße, heterosexuelle Männer den Ton angaben.
Du denkst: Weil wir uns davon frei machen wollten, taten wir, als bräuchten wir diese ganzen Schubladen und Identitäten nicht. Als wären wir alle gleich. Gleich uneindeutig. Sexy uneindeutig! Nicht ganz Mann, nicht ganz Frau, nicht nur schwul, nicht nur lesbisch, nicht nur hetero.
Jetzt küsst beugt er sich über ihre Schulter und küsst ihren Nacken.
Hättest du „es“ merken müssen? Wie denn? Hatten sie Angst, sich als Heteros zu outen? Nach Angst sehen sie gerade nicht aus. Wie kann man nur so lange unsichtbar sein, noch dazu als Paar?
Sie nimmt sein Gesicht in beide Hände und steckt ihre Zunge … du kannst so nicht nachdenken. Eilig drehst du dich um, die Treppe hinauf. Auf dem Hof empfängt dich Kühle. Eine Bank, noch drei Zigaretten in der Schachtel, eine anstecken, ein Zug, einatmen, ausatmen.
Vor ein paar Jahren kam es auf den Veranstaltungen in Mode, dass Leute vor jedem Redebeitrag sagten: „Ich spreche aus der Position von…“
… und dann kam entweder, wie reich die Eltern, ob sie migrantisch oder deutsch waren, ob man behindert war oder nicht. Das sollte dazu dienen, dass man wusste, welche Beziehung die Person zum Thema, über das sie sprach, hatte. Welche eigenen Erfahrungen sie damit gemacht haben konnte und welche nicht. War das eine gute Idee?
Da waren sie wieder, diese klaren Schubladen, klare Wer-darf-was-Paragraphen. Alles schien geklärt. Diese Rituale wirkten oft wie eine Übersprungshandlung. Nach der besagten Einleitung wurde meist nur noch darüber gesprochen, wer was, aus welcher Position sagen durfte und wer, was nicht. Miteinander geredet wurde selten, über Persönliches nie.
Mitten in Deiner Überlegung spürst du einen warmen Atem in deinem Nacken. Und dann … KNUTSCH! Erschrocken drehst du dich um. S.! … aus deiner Politgruppe! Verärgert wischst Du Dir mit der Hand über den Nacken: Ey was soll das? Ich steh nicht auf … S. nuschelt: Ey, sorry. Hab dich verwechselt, von hinten und streicht sich über die Spange im blonden, seitlich gescheitelten Haar.