Weibliche Charaktere bevölkerten das westdeutsche Nachmittagsfernsehen meiner Kindheit, allen voran Pippi Langstrumpf, die Biene Maja und natürlich Heidi – als Zeichentrickfigur einer japanischen Serie. So aufregend ging es höchstens bei ›Wicki und den starken Männern‹ zu; die ›Schlümpfe‹ dagegen waren für mich völlig indiskutabel, und ›Captain Future‹ kam erst später.
Getrübt wurde die glückliche Zeit vor der Glotze durch ein peinliches Ende der Heidi-Serie. Klara, die beste Freundin der Heldin, saß in einem Rollstuhl und war eine weinerliche Nervensäge – oder verwechsle ich sie in meiner Erinnerung mit Pippi Langstrumpfs Freundin Annika? Wie auch immer: Das Happy End sollte nun ausgerechnet darin bestehen, dass Klara auf wundersame Weise wieder laufen konnte und weder einen Rollstuhl noch andere Hilfsmittel brauchte.
Das leuchtete mir nicht ein und verletzte meinen kindlichen Realitätssinn. Klara hatte keine einzige Stunde Krankengymnastik bekommen! Wie sollte diese plötzliche Veränderung möglich sein? Ich hatte den unangenehmen Eindruck, niederträchtig belogen zu werden. Mich selbst beschäftigte der Gedanke laufen zu können kaum oder höchstens so, wie ich mir ausmalte, unsichtbar oder ein Indianer zu sein.
Wahrscheinlich begegnete ich hier der ersten Behinderten in meinem Leben, mit der ich nicht in einen Topf geworfen werden wollte. Heidi war um ein Vielfaches nachahmenswerter. Zu meinem Missvergnügen lernte ich in den folgenden Jahren manche Pädagogen und Physiotherapeutinnen kennen, deren scheinbar professioneller Argwohn sie hinter jedem behinderten Kind eine Klara vermuten ließ, die nur deshalb nicht laufen konnte, weil sie es aus Angst und Bequemlichkeit nicht ausprobierte. Klaras Name blieb mir lange unangenehm, bis meine negativen Assoziationen durch die Bekanntschaft mit sympathischeren Namensgenossinnen zum Guten verändert wurden.
Erst als ich mich vor kurzem mit den Romanen von Johanna Spyri (1827-1901) beschäftigte, fiel mir auf, dass in der Heidi-Klara-Kiste mehr steckt als nur ein plumpes Heilungswunder. Der erste Band – ›Heidis Lehr- und Wanderjahre‹ aus dem Jahr 1880 – enthält eine von der Romantik inspirierte Kritik an damaligen Dienstverhältnissen. Die verwaiste achtjährige Heidi wird von ihrer Tante, selbst eine Bedienstete, in einer wohlhabenden Frankfurter Arztfamilie untergebracht. Dort führt Fräulein Rottenmeier ein straffes Regiment über das Personal und über Klara, die Tochter des gütigen, aber meist abwesenden Herrn Sesemann. Die blitzgescheite Heidi stößt sich an den strengen Benimm- und Kleidungsregeln, daran, dass man das Dienstpersonal nicht duzen darf und die eigene Trauer und Wut herunterschlucken muss, kurz, sie verletzt alle Vorschriften, mit denen sich das Kleinbürgertum selbst terrorisiert. Die Geschichte ist eine Zivilisationsschelte, ähnlich wie ›Tarzan‹, ›King Kong‹ oder ›Crocodile Dundee‹.
Es stellt sich heraus, dass Klara aus dramaturgischen Gründen krank und auf den Rollstuhl angewiesen ist, weshalb sich auch keine der Figuren für ihre Diagnose interessiert. Wäre sie Heidi ebenbürtig oder gar überlegen, dann befände sich der kleine Habenichts mit dem Heimweh nach der Alm tatsächlich in einer ihn demütigenden Position. So jedoch können die Kranke aus wohlhabendem Hause und die unbefangene Analphabetin eine freundschaftliche Koalition gegen das Rottenmeier-Regime bilden.
Zwischen den Welten Heidis und Klaras findet ein Tauschhandel statt: Heidi lernt Lesen und Schreiben, was bei allen Vorbehalten gegen das Stadtleben doch etwas Gutes ist; nicht umsonst heißt die Romanfortsetzung von 1881 ›Heidi kann brauchen, was es gelernt hat‹. Und Klara, bisher eine Gefangene öder Konventionen, erhält im Gegenzug ihre Lebendigkeit zurück. Bei einem Besuch auf der Alm merkt sie, dass sie den Rollstuhl nicht braucht. Ihre Erkrankung ist psychosomatischer Art und eine Metapher. Ihre mysteriöse Lähmung lässt an die Symptome denken, die Sigmund Freud bei seinen ersten Patientinnen ›hysterisch‹ genannt hat und die als eine Reaktion auf patriarchale Zumutungen interpretiert werden können.
Heidis Alm ist mehr als eine bis ins Unerträgliche romantisierte Schweiz. Sie ist eine Kinderutopie, in der sich alle frei bewegen und geradeheraus sagen können, was sie denken und fühlen. Hätte Klara das auch sitzend statt laufend vermocht, dann wäre sie sicher eine Heldin meiner Kindheit geworden, und man hätte mich als Rollstuhlfahrer gern zu ihresgleichen rechnen dürfen.
Der Text erschien in leicht veränderter Form zuerst 2013 in Heft 2 der Zeitschrift Make Out Magazine.