Lieber Stern,
Deine gut gepflegte Tradition der Elends- und Mitleidsberichterstattung kennen wir ja schon. Klar, dass du auf auffällige Körper setzt – zum Beispiel mit Hilfe deiner langjährigen Marotte, schöne Frauen nur ausgezogen auf die Titelseiten zu setzen. Gerne aber auch durch deine großen Reportagen über Behinderte. Dieselben Freaks, die früher auf den Jahrmärkten die Gaffer anzogen, bringen dir heute eine ordentliche Auflage.
Highlights waren deine ausführlichen Portraits über Schwerstbehinderte, die zum Selbstmord entschlossen sind, zum Beispiel in einer deiner Ausgaben im November 2006. Dafür hast du natürlich vollstes Verständnis – eine Tragödie, wenn jemand rund um die Uhr gepflegt werden muss, findest du, und, dass das schnell beendet gehört. Depressionen, Pflegenotstand, Angehörige, denen keiner zur Last fallen will – das ist dir vielleicht auch mal eine Zeile wert. Aber dass die Antwort dennoch nur der Tod sein kann, das ist für dich selbstverständlich.
Aber lassen wir die alten Geschichten. Mit deiner aktuellen Mitleidsnummer schaffst du es auch ganz weit nach vorne. Und du kommst sogar den alten Jahrmarktszeiten wieder ein Stückchen näher – wie schön, wenn sich mal der Kreis schließt. Das indische Mädchen Lakshmi aus einem Dorf im indischen Bundestaat Bihar ist wie geschaffen für deine einfühlsame Sensationsberichterstattung. Lakshmi wurde vor zwei Jahren mit vier Armen und vier Beinen geboren. Die „überzähligen“ Arme und Beine wurden Anfang November in einer aufwändigen Operation entfernt. Das musste sein, denn das Immunsystem von Lakshmi funktionierte durch viele infizierte Druckstellen nicht mehr richtig. Das Mädchen wäre wahrscheinlich sonst bald gestorben.
Für dich, Stern, jedoch ist klar, dass auch ohne diese Gefahr ein Körper wie der von Lakshmi nicht zu tolerieren ist. Die Arme und Beine, die aus ihrem überlangen Torso herauswuchsen, seien wie „eine missglückte halb fertige Kopie ihrer selbst“, schreibt deine Autorin Teja Fiedler. Mehr als zwei Arme und zwei Beine – das kann ja gar nicht menschlich sein, so deine Logik. Und tatsächlich lesen wir: „Die Arme und Beine, die zu ihm [dem verlängerten Teil des Körpers] gehörten, waren leblos. Was dort an Lakshmi hing, war kein zweiter Mensch, sondern nur ein monströser Auswuchs von Fleisch und Blut“.
Kein Wunder, dass deine Metaphorik hin- und herschwankt zwischen Überhöhung und Geringschätzung. Von einem „Göttermädchen“ ist bei dir die Rede, denn Lakshmi erinnert viele Inder an die vierarmige Göttin Lakshmi, nach der das Mädchen auch benannt worden ist. An anderer Stelle vergleichst du Lakshmi mit einer „makabren Jahrmarktsattraktion“ – denn tatsächlich wollten Betreiber von Jahrmärkten Lakshmi kaufen und ausstellen.
Zwischen Gott, Tod und Teufel passen natürlich nur noch – die Engel. Die gottgleichen, aber trotzdem irdischen Heilsbringer sind in der Symbolik deines Weltbildes immer die Ärzte, die die durcheinander gebrachte Ordnung wiederherstellen. Und so zitierst auch du in deinem Artikel eine Glückwunschkarte an den Operateur Dr. Patil: „Dear Doctor, Sie müssen wahrhaftig ein von Gott gesandter Engel sein“.
Die Eltern weigerten sich zum Glück, ihre Tochter dem Jahrmarkt zu überlassen. Sie wollten weder Vergötterung noch Verspottung ihrer Tochter. Statt dessen, so schreibst du, Stern: „Sie wollten eine gesunde, normale Lakshmi, so gesund und normal wie der vier Jahre ältere Bruder Mihilesh“. Verständlich ist das – schließlich sind die Eltern arme Bauern, und die Versorgung eines behinderten Kindes kostet in Indien eine Menge Geld. Für dich, Stern, ist aber ohnehin klar, dass ein Mensch „normal und gesund“ zu sein hat, egal unter welchen Verhältnissen, das hast du uns ja schon oft genug auf’s Brot geschmiert.
Dein Mondkalb