Es heißt, in der Veränderung der Sprache spiegele sich die Veränderung der Gesellschaft. Zum »Wort des Jahres« wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache in den 1970ern »aufmüpfig«, »Szene« und »konspirative Wohnung«. In den 1990ern waren es »Sparpaket«, »Reformstau« und »Rot-Grün«. Und in den letzten Jahren wurden »Flüchtlinge«, »postfaktisch« und »Jamaika-Aus« auf den ersten Platz gewählt. Jüngst gekürtes »Unwort des Jahres« ist das von einer Beraterin des US-Präsidenten Trump fabrizierte Diktum von den »alternativen Fakten«. Einer Entscheidung der Ilse-Bähnert-Stiftung zufolge wurde 2017 das beliebteste sächsische Wort das Jahres »andadschn«.
Eine wichtige Wortart wird von den linguistischen Messstationen und philologischen Preisgerichten regelmäßig übersehen. So sehr wir unsere mündliche Rede kontrollieren mögen, uns entschlüpfen doch wiederholt ungeplante Satzbestandteile. Gemeint sind Füllwörter, die für sich genommen harmlos und wenig gehaltvoll sind. Gegen sie ist zunächst also wenig einzuwenden. Sie verzögern die Rede und verschaffen sowohl den Redenden als auch den Zuhörenden Zeit zum Denken und Mitdenken. Sie sind auch »Hecken-Ausdrücke«, hinter denen man sich verstecken kann. Aber ungeachtet dessen erzählen die Füllwörter etwas über uns und unsere Gesellschaft.
Das semantisch schwache »äh« scheint auf dem Rückzug zu sein, während Alternativen vorstellig werden. Die Linguistin Gloria Nsimba berichtete 2015 in der Zeitschrift des Vereins für deutsche Sprache, dass sich vor allem in der Gruppe der (damals) 20 bis 27-Jährigen ein neues Füllwort etabliert habe: »Genau« dient in dieser Funktion nicht zur Bestätigung dessen, was jemand anderes gesagt hat, vielmehr bekräftigt man damit eigene Aussagen, die man schon getätigt hat oder noch tätigen will. Die Autorin nennt folgendes Beispiel: »Ich schau mal, genau, ich schau mal drüber.« Ein Satz könnte auch lauten: »Genau, unter Ableism versteht man, genau, wenn Menschen auf ihre Behinderung reduziert werden.« Wer versucht ist, über die Sentenz zu spotten, der achte einmal auf die eigene Rede.
»Genau« scheint eine nicht unbedeutende Veränderung zu signalisieren. Zu meiner Studienzeit in den 1990ern war »sozusagen« das wichtigste Füllwort. Man konnte beispielsweise formulieren: »Der Arbeitslose ist in einer sozusagen menschenunwürdigen Situation. Die Überwindung seiner Ausgeliefertheit ist sozusagen die zentrale perspektivische Entwicklung seiner individuellen Lebensqualität.«
Was haben »genau« und »sozusagen« gemeinsam? Beide Füllwörter haben mit Unsicherheit zu tun. »Genau« setzt der Ungewissheit dessen, was man geäußert hat und noch äußern will, eine Versicherung entgegen. Es funktioniert wie die Zwischenspeicherung einer Textdatei auf dem Computer. Man hätte das Bisherige auch löschen können, aber man entscheidet sich, es festzuhalten. Im Kontrast dazu betont »sozusagen« mangelnde Präzision und Komplexität. Man will zu erkennen geben, dass man weiß, dem komplizierten und weitläufigen Sachverhalt nur sehr ungenügend gerecht zu werden. Im Eifer des Wortgefechts kann man den Satzpartikel auf »sozágn« zusammenziehen.
Und jetzt halten Sie sich fest, wir geraten nun in die Kurve hemmungsloser Spekulationen: »Sozusagen« wird natürlich immer noch genutzt. Aber als oppositionelles Hauptfüllwort entstammt es möglicherweise einer inzwischen verschwundenen Form des Kapitalismus, die in der gelehrten Welt »Fordismus« genannt wird, nach der zuerst in den Ford-Werken eingeführten industriellen Fließbandfertigung. Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen. Wenn man es stark vereinfacht, dann war die Zeit des Fordismus durch starke Gewerkschaften und die Systemkonkurrenz mit dem »realexistierenden Sozialismus« der DDR geprägt. Unter der strengen Aufsicht von CDU und SPD hatten in der Bundesrepublik Arbeit und Kapital einen Kompromiss geschlossen. Das Proletariat hatte bezahlten Urlaub, Rente, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Grundversorgung in staatlicher Hand sowie langfristige Arbeitsverträge erkämpft. Die Gegenseite akzeptierte die Errungenschaften, verlangte aber im Gegenzug Ruhe und Ordnung. Wer nicht ins Schema passte und »aufmüpfig« wurde, musste und konnte sich in Subkulturen zurückziehen.
Solcherart betonierte Bedingungen geben Anlass zu Empörung, aber in der intellektuellen Diskussion ist Empörung kein Argument, sie bedarf vielmehr der Begründung. »Sozusagen« relativiert die Bewertung der menschenunwürdigen Situation und verweist implizit darauf, was für kritische Geister noch alles zu tun bleibt. Die Unsicherheit, die darin angedeutet wird, öffnet einen Spalt in der hermetisch abgeriegelten Welt.
Nach dem Verschwinden der Systemkonkurrenz war auch der fordistische Kompromiss zu Ende. Post, Bahn und Gesundheitswesen wurden gänzlich oder teilweise privatisiert, langfristige Arbeitsverhältnisse stark zurückgedrängt, Renten- und Krankenkassenleistungen beschnitten, und mit Hartz IV schaffte die rot-grüne Bundesregierung 2005 den größten Niedriglohnsektor in Europa. An den Hochschulen wurden die »studienbegleitenden Prüfungen« der »Bologna-Reformen« eingeführt. Mitte der 1990er Jahre bekam die neue Epoche verschiedene Namen verpasst: Postfordismus, Postmoderne, Neoliberalismus. Sie gibt sich toleranter als ihre Vorgängerin, die einstigen Subkulturen geraten in den Strom des Mainstreaming. Die Toleranz hat natürlich Grenzen und setzt Prioritäten. Politik und Feuilletons interessieren sich mehr für den Frauenanteil in DAX-Konzernvorständen als für die entlassenen Mitarbeiterinnen der »Schlecker«-Drogeriemarktkette.
Heute können wir die Ergebnisse dieser Politik besichtigen: In einer unsicherer und unübersichtlicher gewordenen Welt, in der Menschen und Leistungen engmaschig »evaluiert« werden, steht die Bewertung von Verhaltensweisen im Vordergrund. Man bewegt sich durch riskantes Gelände. Eine Weile kann und soll man die Rede flexibel halten, aber ab einem bestimmten Punkt muss man die Komplexität der widerstreitenden Gedankengänge meistern und sich festlegen: Jetzt gilt es, jetzt kann das Gesagte von anderen geprüft werden. Diesen Punkt markiert »genau«. Die FAZ spricht von einer »Vokabel der Verunsicherten«.
Zu Kulturpessimismus gibt die wechselnde Konjunktur der Füllworte jedenfalls keinen Grund. Die Sprache spiegelt vielleicht gesellschaftliche Entwicklungen, aber sie ist nicht schuld daran. Den Fordismus will bei Lichte besehen niemand wirklich zurückhaben, jedenfalls nicht als Gesamtpaket. Und auch die Postmoderne, die einst behauptete, den »großen Erzählungen« ein Ende zu setzen, sieht inzwischen brutal und verlogen aus. Faschistoide Parteien und Bewegungen erhalten in Europa und den USA Zulauf, teilweise dringen sie in die Regierungen vor. Etwas Menschenfreundlicheres als das könnte es allemal geben. Also auf zu neuen Füllwörtern!