Der Mittag des 12. Mai 2009 ist sonnig. Aber es geht ein empfindlich kalter Wind. Die Passanten, die auf dem Teil der Oranienstraße in Berlin Kreuzberg zu sehen sind, der zwischen der Senatsverwaltung für Soziales und der Bundesdruckerei
verläuft, haben sich warm eingepackt. Die meisten von ihnen gehen in der Kantine der Senatsverwaltung zum Mittagstisch. Der Verkehr fließt wie meist um diese Uhrzeit normal und ohne Stockungen.
Ab 13:00 Uhr kommen unweit des Senatsgebäudes etwa 50 Leute zusammen. Mehr als 30 von ihnen sitzen in Rollstühlen und haben sichtlich eine schwere Behinderung. Plakate werden verteilt, ein Megaphon wird ausgepackt, Absprachen
werden getroffen. Gegen 14:00 Uhr fahren einige der Rollstuhlfahrer an den Straßenrand. Drei Kleintransporter halten an. Betten werden ausgeladen und auf die Fahrbahn gestellt. Nun drängen alle auf die Straße. Leute werden in die Betten gelegt. Der Verkehr stockt. Bald kommt er ganz zum Erliegen, blockiert von Rollstühlen und Betten. Flugblätter werden verteilt. Ein Mann im Rollstuhl erklärt über Megaphon, warum die Blockade stattfindet. Die Leute in den Betten und Rollstühlen sind auf persönliche Assistenz angewiesen. Das ist eine Form der Hilfeerbringung, bei der die, die die Hilfe benötigen, bestimmen, wer bei ihnen arbeitet, wann und wo gearbeitet wird und welche Arbeiten wie getan werden. So können auch schwerbehinderte Bürger über ihren Alltag und ihr Leben verfügen. In einem Heim oder mit einem üblichen Pflegedienst wäre das nicht möglich.
Nur mit Assistenz ist Menschen mit einem umfangreichen Hilfebedarf in ausreichendem Maße Teilhabe an den allgemeinen Werten der Gesellschaft
möglich. Die Assistenten arbeiten im Privatbereich der behinderten Menschen. Ihre Tätigkeit berührt deren Intimsphäre. Die Assistenten führen das aus, wozu diese nicht in der Lage sind: Ankleiden, Körperhygiene, Haushalt, Unterwegsbegleitung,
Kommunikation. Assistenz stellt so etwas wie die erweiterte Körperlichkeit der behinderten Person dar. Sie erfordert Diskretion, soziale Kompetenz und körperliche Fitness. Sie ist eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit, aber sie wird nicht angemessen bezahlt.
Das Land Berlin hatte vor fast 30 Jahren eine Vorreiterrolle bei der Ermöglichung von Assistenz und deren Finanzierung
inne, nicht zuletzt deshalb, weil damals und auch in späteren Jahren die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit
und Soziales hier in der Oranienstraße 106 sich dem Gespräch mit Assistenzbedürftigen stellte und deren Forderungen
nachvollziehen konnte.
Die Blockierer kommen vom Bündnis für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen. Das gibt es bereits seit Mitte der 90er Jahre. Es findet immer wieder zusammen, wenn die Erbringung von Assistenz bedroht ist. Nun stehen sie
hier auf der Straße, weil die Entgelte für Assistenz seit 12 Jahren nicht angehoben wurden.
Das bedeutet für die Assistenten einen Reallohnverlust von etwa 17 Prozent in diesem Zeitraum. Ein Assistenzdienst musste die Löhne für Mitarbeiter, die neu eingestellt werden, sogar um 15 Prozent absenken.
Die Betroffenen sind hier in erster Linie diejenigen, die jetzt schon 10 Minuten den Nachmittagsverkehr aufhalten: Leute, die auf Assistenz angewiesen sind. Die Tatsache, dass die Entlohnung von Assistenz mittlerweile nahe der
Grenze zum Niedriglohnsektor liegt, wirkt sich auf ihren Alltag aus. Immer schwerer finden sie Leute, die eine solche Tätigkeit für diesen Lohn zu tun bereit sind. Und wenn sie welche finden, sind die bald wieder weg, weil sie einen
besser bezahlten Job gefunden haben. Dabei ist es gerade in der Assistenz von hoher Wichtigkeit, dass Mitarbeiter über längere Zeiträume bleiben. Nur so kann ein vertrauensvolles Verhältnis entstehen. Zudem besetzt der Stress ständig neuer Einarbeitungen Ressourcen, die eigentlich für die Ausgestaltung des Alltags nötig wären. Aber auch Assistenten, die längere Zeit bleiben, sind gezwungen, sich einen zweiten Job zu suchen, und sind damit in der Dienstplanung schlechter verfügbar, kommen nicht ausgeruht zur Arbeit und sind unzufrieden mit ihrer Situation.
Wenn Menschen, auf die man angewiesen ist, unzufrieden sind, weil man auf sie angewiesen ist, ist das eine sehr unglückliche Kombination, die mit der erhofften Handlungsfreiheit für schwerbehinderte Menschen durch Assistenz nur noch wenig zu tun hat. Wenn sich dieser Trend fortsetzt – und das ist bei Wirtschaftskrise und Sparzwang der öffentlichen Hand naheliegend -, wird Assistenz bald unmöglich sein.
Nach einer Viertelstunde kommt die Polizei. Gleichzeitig erscheint die Staatssekretärin Frau Dr. Leuschner auf der Straße. Die Blockierer gehen mit der Staatssekretärin ins Foyer der Senatsverwaltung. Der Verkehr kann endlich wieder
fließen. Die Staatssekretärin stellt sich für 15 Minuten den Anfragen der Demonstranten. Mehr Zeit hat sie nicht. Sie versteht das Anliegen, verspricht auch, ihr Möglichstes zu tun, und stellt weitere Gespräche in Aussicht. Trotzdem
hat sie wenig Hoffnung, dass sich bis Ende 2010 etwas ändern wird. Solange läuft der Vertrag, der die Entgelte für Assistenz festsetzt. Kann es noch anderthalb Jahre so weitergehen? Die Gesichter der Betroffenen sind hart.
Die Blockierer zerstreuen sich. Plakate werden eingepackt, Rollstühle in Fahrzeugen verstaut. Die Polizei nimmt die Personalien der Verantwortlichen auf. Immerhin war das eine illegale Aktion. Es weht noch immer ein scharfer, kalter
Wind.