Wohngemeinschaft Hartroda

Das Ganze ist jetzt 30 Jahre her. Ich war 19 und hatte keine Chance. Meine Muskelkrankheit hatte es nie erlaubt, dass ich laufen lernte und mich selbstständig bewegte. Ich war also immer auf die Hilfe anderer angewiesen, wenn ich mich umziehen, ein Bad nehmen oder mir etwas zu essen kochen wollte. Für Leute wie mich gab es in der ohnehin schon alternativenarmen Gesellschaft der DDR nur zwei Möglichkeiten: Ein Leben bei Verwandten oder eines im Alterspflegeheim.
Wir wollten weder von Mutti betuttelt werden, noch den Rest unserer Zeit sehnsüchtig den Stationsflur hinuntersehen. Wir – das waren außer mir: Affe, Hugo, Kartoffel und Maikel. Ein paar Jahre zuvor waren wir Schüler des Marienstiftes in Arnstadt gewesen. Außerdem gehörte Peter dazu, unser Pfleger,
nur wenige Jahre älter als wir – und später dann Michael. Es gab unter den Mitarbeitern des Stiftes eine Menge Leute wie Peter – Leute, die ein Leben jenseits der üblichen Vorgaben und Normen führen wollten, Leute mit langen Haaren, Jeans und Jesuslatschen. Mit ihnen kamen die Gedanken der 68er und Vorstellungen von neuen Formen des Zusammenlebens in unsere unreifen Hirne. Wir stellten uns irgend so eine Mischung aus Kommune und christlicher Bruderschaft vor. Die Nichtbehinderten sollten den Behinderten die Hilfen geben, die diese brauchten. Dafür mussten sie nicht in der VEB-Knochenmühle schuften und ihr Leben im stupiden Rhythmus von acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Schlaf vertun. Vor allem mussten sie nicht wie die meisten, die keiner geregelten Arbeit nachgingen, befürchten, wegen Asozialität und krimineller Gefährdung in den Knast zu kommen. Sie hatten ja mit uns Behinderten ein prima Argument für ihren Ausstieg aus den sozialistischen Abläufen. Die Renten und Pflegegelder der Behinderten sollten zusammengelegt werden, damit alle davon ihr Leben bestreiten konnten.
Eine seltsam verquere weltfremde Idee von ein paar Spätpubertären. Aber unsere Lage war so aussichtslos, dass wir uns nicht leisten konnten, ihr nicht nachzugehen. Und das Glück war auf unserer Seite. Eine Freundin war in der Lage, uns zehntausend Mark für den Erwerb eines Grundstücks zu schenken. Für ein Eigenheim hätten wir damals schon das Zehnfache hinblättern müssen. Aber so eine Spießerbude wollten wir ja gar nicht. Für Zehntausend hatten wir Aussicht auf einen Vierseithof mit ausreichend Wohnraum, Nebengelass und einem Hektar Garten im Altenburger Land. Die evangelisch-lutherische Landeskirche Thüringens bot uns den Pfarrhof von Hartroda an – zerfallen und im Schatten der Uranhalden der Wismut gelegen. Nicht gerade ein heimeliger Ort, aber mit Potential, der unsere zu werden. Aus dem Kauf ist bis heute nichts geworden. Zunächst wohnten wir bei der Kirche zur Miete. Nach der Wende entstand der Verein „Wohngemeinschaft Hartroda e.V.“, der das Grundstück in Pacht nahm.
Auch in der DDR hatten im dritten Jahrzehnt ihres Bestehens Wohlstand und Komfort längst gegriffen. Hartroda hatte davon allerdings noch nichts abbekommen. Es gab im gesamten Ort keine befestigte Straße, öffentliche Wasserversorgung, Verkaufs- oder Poststelle. Die achtzigjährigen Fenster hingen undicht in den Öffnungen und bei Westwind okkupierte das Plumpsklo das ganze Haus. Wir zogen mit ein paar Matratzen und Stühlen, einer Kochplatte und einem Tonbandgerät in die Ruine und waren glücklich. Der nächste Bahnhof lag acht Kilometer entfernt.
Mit dem Rollstuhl brauchten wir zwei Stunden bis zum Zug. Das Geld taten wir in guter urchristlich-kommunistischer Manier in einen Topf und lebten alle daraus. Es gab meistens Brot, Schmalz, Schwarztee und Karo, die filterlose Gauloises des Ostens. Es gab selten Kaffee, Fleisch, Käse oder Schokolade – sehr selten. Doch wir legten auch keinen Wert darauf, so vollgefressen zu sein wie die anderen Bürger. Wir hatten zu Beginn keinen Fernsehapparat und kein Auto. Sogar unsere Bibliotheken und Plattensammlungen legten wir zusammen. Es gab nicht einmal ein festdefiniertes Eigentum an Wäsche. Jedenfalls sah ich meine tollen farbigen Unterhosen immer wieder auf den Ärschen der anderen, während die ollen sackigen Dinger bei mir hängen blieben.
Die Idee, dass Behinderte die Hilfen bekamen, die sie für ein Leben nach eigenen Maßgaben brauchten, bestimmte zwar unseren Alltag, trat aber in den Hintergrund angesichts der vielen anderen Ideen, die sehr schnell bei uns andockten: Pazifismus, Bürgerrechte, Ökologie, Anarchie… Hartroda war zur exotischen Insel im grauen Meer der sozialistischen Realität geworden. Es gab Feste, zu denen mehr als hundert Gäste kamen, Theateraufführungen, Lesungen, Ausstellungen. Bands spielten und Seminare wurden veranstaltet. Kaum jemand sah normal aus – und das lag in den seltensten Fällen an einer Behinderung.
Die Tatsache, dass man uns behördlicherseits mit der Kirche in Verbindung brachte und sich die Kirche in der Pflicht sah, uns zu schützen, aber auch die starke Verunsicherung gegenüber unserer Behinderung lösten bei den Behörden Beißhemmungen aus. Obwohl es von Staat und Kirche immer wieder Bestrebungen gab, die Wohngemeinschaft zu unterbinden, ist das doch nie erfolgt.
Die nichtbehinderten WG-Mitglieder waren nicht unbedingt alternative Idealisten. Sie kamen zu uns, weil sie selbst irgendwie sperrig waren, Verwerfungen hatten und nicht in die allgemeinen Anforderungen passten. In der Gruppe hofften sie Freiräume zu finden. Kreativität und Lebenslust, Verwirklichung und Selbstfindung standen ganz oben. Im Alltag aber musste gewischt und gekehrt werden, geheizt und gekocht, gehoben und getragen. Schafe mussten geschoren werden und Kartoffeln eingekellert. Der antiautoritäre, anarchische Ansatz hatte zur Folge, dass verantwortungsvolle Leute mit Arbeit überhäuft waren, während andere fernsahen und Bier tranken. Und es gab Dinge, die nicht erledigt wurden. Unsere Bude sah meist chaotisch und dreckig aus. Im Garten wucherte das Unkraut. Das Obst hatte nur noch minderwertige Qualität, weil der Baumschnitt immer wieder verpasst wurde. Unsere Wirklichkeit hatte mit unserem Konzept oft genug wenig zu tun.
Trotzdem scheiterte die Wohngemeinschaft auch nicht an den inneren Spannungen. Wir Behinderten konnten es uns nicht leisten, das Projekt enden zu lassen. Unsere Existenz hing daran.
In den späten 80ern und frühen 90ern waren wir weniger eine Gruppe mit gemeinsamen Zielen als Einzelpersonen, die gemeinsam wirtschafteten und sich gegenseitig Hilfeleistungen nach Absprachen erbrachten. Das war wesentlich praktikabler, als die Welt zu retten und dabei auch noch unter Gruppenzwang zu stehen.
Mit dem Zusammenbruch der DDR endete für die Wohngemeinschaft die ständige Bedrohung, durch Polizeieinsätze oder Inhaftierungen aufgelöst zu werden. Und es endete die Notwendigkeit einer solchen sozialen Symbiose von Leuten, die auf Hilfen im Alltag angewiesen sind, und welchen, die anderweitig nicht in die Norm passen.
Ich ging 1994 nach Berlin. Ich wusste, dass hier die Bedingungen für mich viel günstiger waren. Bei „ambulante dienste e.V.“ konnte ich mir die Leute, die meine Hilfen erbrachten, selbst aussuchen. Sie bekamen eine Anstellung und wurden für ihre Arbeit entlohnt. So war ich erstmals nicht mehr darauf angewiesen, darauf zu achten, inwieweit meine Vorhaben mit den Vorhaben meiner Helfer kompatibel sind. Es war nicht mehr ihr guter Wille, der mich ein halbwegs selbstbestimmtes Leben führen ließ. Sie bekamen jetzt Geld dafür. Ich konnte sagen, was ich tun wollte, und sie taten es. Der Kommunarde war nun zum Assistenzflüchtling geworden, der am Kapitalismus partizipiert. Es geht mir nach wie vor gut damit.
Die Wohngemeinschaft Hartroda war Ende der 90er Jahre zu einer Gruppe geworden, wie es viele gibt: Leute, die sich mit klaren Absprachen zusammen finden, um ein alternativ orientiertes Leben auf dem Land zu führen. Als solche besteht sie noch heute. Leute, die einen hohen körperlichen Unterstützungsbedarf haben, wohnen zurzeit nicht dort.

von Matthias Vernaldi

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