„Betreten auf eigene Gefahr“

Heute Morgen um sechs betrat mich ein schwankender Mann, der offensichtlich, statt zu schlafen lieber, getrunken hatte. Er hielt sich gerade, in dem er seinen Rücken gegen mein Armaturenbrett stemmte, blickte sich um, verlor dabei beinahe den Halt, öffnete seine Hose und ließ es laufen.

Heute Morgen um sechs betrat mich ein schwankender Mann, der offensichtlich, statt zu schlafen lieber, getrunken hatte. Er hielt sich gerade, in dem er seinen Rücken gegen mein Armaturenbrett stemmte, blickte sich um, verlor dabei beinahe den Halt, öffnete seine Hose und ließ es laufen. Die Flüssigkeit verteilte sich in einer kleinen Lache auf meinem gerade mit scharfem Desinfektionsmittel gereinigten Boden. Der Mann versuchte umständlich seinen Hosenstall wieder zu schließen, dabei gelingt es ihm nicht ganz und ein Stückchen seines weißen Oberhemdes bleibt zwischen seinen Fingern und Hosenstall hängen. Er scheint kein Profi im Pinkeln zu sein, zumindest nicht im öffentlichen. Viel zu hastig und damit zu auffällig sind seine Bewegungen. Mein Gast brummt leise etwas vor sich hin und schafft es schließlich in minimalistischen Bewegungen, Hemd und Hose wieder in einen ordentlichen Zustand zu bringen. Er sieht sich noch einmal um und stößt sich schließlich, bevor er meine Kabine verlässt, am Armaturenbrett ab. Die warme, dampfende Körperflüssigkeit, die er mir hinterlassen hat scheint ihn einholen zu wollen. Er ruft leise einen Frauennamen und sagt, er würde jetzt gleich zu ihr kommen, bevor er aus der Urinpfüze stolpert und vor meiner Tür auf den Bahnsteig entlassen wird. Gerne würde ich ihm ein „Viel Glück mein Freund, aber das nächste mal benutzt du doch das Bad deiner Freundin“ hinter her rufen, aber leider ist mir dieses Privileg nicht vergönnt. Bald nachdem Anzugkavalier öffnet sich meine Tür für eine Dame mit Hund, die schwerfällig eine Art Rollatorgestell vor sich her schiebt, an dem die Leine des Tieres verknotet worden ist, so dass er beinahe unter die Räder gerät. Die Frau verzieht das Gesicht, nestelt ein Stofftüchlein aus ihrer Handtasche und hält es sich vor den Mund, während sie versucht ihren Vierbeinigen Begleiter von der Hinterlassenschaft des vorherigen Fahrgastes weg zu ziehen. Der Hund lässt sich jedoch in seiner Konzentration mit der er die Flüssigkeit beschnüffelnd untersucht, nicht stören, hebt schließlich sein Beinchen und fügt der inzwischen erkalteten Lache ein paar neue Spritzer warmen Hundeurins hinzu. Die Dame verzieht das Gesicht und schüttelt den Kopf, ihr schweres Blümchenparfum legt sich auf die Geruchswolke des menschlichen und tierischen Urins und nimmt mir beinahe die Fähigkeit meine Türen zu öffnen. Ich habe nicht lange Zeit zum Verschnaufen, Menschen auf zwei Beinen quetschen sich in mich hinein, zer-drücken sich beinahe. Jetzt habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich die U-Bahn in Tokio fühlen muss. Eine Gruppe Jugendlicher ist auch dabei. Sie hinterlassen mir Sprüche mit blauem Edding und Kaugummireste auf dem Fußboden. Mit letzter Kraft spucke ich sie aus. Es gibt viele Kollegen in der Stadt, in einer großen Stadt wie Berlin.
Laut Definition sind wir Fahrstühle Anlagen mit der Fähigkeit durch eine Kabine Personen und Gegenstände vertikal nach oben oder unten zu befördern. Wir sind also ein Raum, in dem ein Mensch oder Tier Zeit, wenn auch meistens nur sehr kurze, verbringen. Leute, denen es nicht möglich ist Treppen oder Rolltreppen zu benutzen, sind auf diese Räume sehr stark angewiesen. Nun ist es oftmals so, dass ein Fahrstuhl nicht nur für die kurze Zeit der Beförderung als Transportmittel angesehen wird. Fahrstühle erzählen Geschichten, wenn auch manchmal eklige und nicht sehr schöne. Ich bin nur auf Sekundenbesuch eingestellt, der stumm und schnell bei mir ist und wieder geht ohne mir irgendetwas zu hinterlassen.
Entschuldigung, aber ich muss meinen Bericht kurz unterbrechen. Ein neuer Fahrgast kommt. Es ist ein freundlich aussehender Mann im Rollstuhl. Ich öffne ihm die Tür so schnell wie möglich, damit er nicht so lange auf dem zugigen Bahnsteig warten muss.
Auch er sieht sich, nachdem er auf den Knopf gedrückt hat, in meinem Inneren um. Seine Räder stehen in der Urin-pfütze. Plötzlich beugt er sich über seinen Rollstuhl, öffnet den Mund und kotzt . Genau in die Pfütze.

Marie Gronwald

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