Ein Mann mit psychischen Schwierigkeiten hat sich einem Projekt anarchistischer Aktivisten angeschlossen. Das kostet ihn viel Zeit und Energie. Es fällt ihm manchmal schwer, sein Verhalten zu kontrollieren. Einige der jungen Frauen finden seine oft aggressive Sprache und sein Verhalten bedrohlich und wollen ihn ausschließen. Andere stören sich an seiner mangelnden Körperpflege. Niemand begreift, dass der Mann einfach auch soziale Unterstützung sucht. Und kaum einer erkennt die Unsicherheit, die psychische Krankheit hervorruft auch bei Leuten, die sich als aufgeschlossen verstehen gegenüber der menschlichen Vielfalt.
Als Mutter eines autistischen Kindes habe ich dieses Problem auch selbst schon gehabt. Als mein Partner und ich Hilfe am nötigsten hatten, konnten wir nicht auf unser anarchistisches Umfeld zählen. Als wir es nicht selbst schafften, mussten wir uns an Schulen und an das Gesundheitssystem wenden – an Staat und Wirtschaft also.
Von uns wird verlangt, Kompromisse mit Systemen zu schließen, die oft willkürlich und einengend sind. So haben wir Selbsthilfegruppen und Interessenvertretungen gegründet, doch auch diese verwandelten sich immer mehr in Lobbygruppen.
Nicht allein der moderne Kapitalismus ist daran schuld. Ich kenne keine aufgeklärte Praxis einer früheren Zeit, zu der wir zurückkehren könnten, und auch kein Musterbeispiel heutiger Gemeinschaften, die es besser machten. Die Realität des behinderten Lebens vor der Existenz staatlicher Hilfe und Wohlfahrtspflege reichte von Mord bis zur Verbannung in kirchliche Institutionen.
Die Idee eines anderen Zugangs
Um sich einen antiautoritären Zugang zum Thema zu schaffen, ist es hilfreich, sich das Konzept von Behinderung des sozialen Modells anzuschauen. Es besagt, dass Behinderung ein soziales Produkt ist.
Menschen sind unendlich verschieden und verändern sich untwegt durch Erfahrungen, Unfälle, Alter und so weiter. Diese vielfältigen Fähigkeiten sind normal, keine herauszuschneidenden Abnormitäten. Was aus bloßen Unterschieden Behinderungen macht, sind die Barrieren, die Leute mit bestimmten Unterschieden an der Teilnahme hindern. Dies sind Prozesse von Diskriminierung und Unterdrückung, dies ist Behindertwerden. Es ist kein persönliches oder familiäres Problem.
Und wenn Behinderung ein soziales Produkt ist, sollte es auch ein soziales Problem sein. Weder eine Staatsangelegenheit, noch die bloße Verantwortung von Familien, Partnern und Freunden.
In einer anarchistischen Ge-sellschaft könnten Gemeinschaftsorganisationen Hilfen bieten. Da können wir eine Menge lernen von feministischen und radikalen Kollektiven der Gesundheitsfürsorge.
Qualitativ hohe medizinische Versorgung und Innovation ist so schon schwerer denkbar. Gehirnchirurgie, komplexe orthopädische Operationen und die Pharmaforschung brauchen eine Menge Ressourcen, vom sterilen OP-Raum bis zu vielen Jahren des Studiums und der Praxiserfahrung. Zu verhindern, dass hier aus Expertise kein Macht- und Elitendenken wird, ist eine echte Herausforderung.
Es gibt also bereits Praktiken, die in ein nicht-hierarchisches Muster passen. Eine ist die Selbsthilfebewegung. Ein vielversprechender anderer Zugang heißt Circle of Support (Kreis der Unterstützung). Das sind Gruppen, die sich freiwillig einer behinderten Person zur Verfügung stellen. Diese Verantwortung kann für einen bestimmten Zeitraum übernommen werden oder für ein ganzes Leben. Der behinderte Mensch ist im Fokus eines Kreises, und alle Mitglieder schließen die Person in ihre sozialen Aktivitäten ein und arbeiten an der Überwindung von Barrieren.
Die Kreise handeln als Freunde; ein Verhältnis mit weniger Machtgefälle als es bei Professionellen oder Familienmitgliedern der Fall ist.
Das führt meine Gedanken wieder zurück zu dem Mann, den ich am Anfang beschrieben habe. Er hätte wahrscheinlich Unterstützung gebraucht, um Teil einer Gemeinschaft zu sein. Ein Circle of Support wäre ein gute Möglichkeit dafür gewesen, sowohl seine Bedürfnisse zu befriedigen, als auch zu gewährleisten, dass die anderen sich sicher fühlen können.
Von der bloßen Sicht auf Behinderung zur Unterstützung behinderter Menschen
Weil behinderte Menschen so ausgesondert sind aus der Mainstream-Gesellschaft, ist es einfach, sie zu ignorieren, es sei denn, Behinderung betrifft unser eigenes Leben. Natürlich wird es das irgendwann sowieso betreffen die meisten Leser dieses Artikels werden alt werden, ernsthafte Krankheiten erleben oder einen Unfall erleiden.
In der westlichen Welt verstecken wir Behinderung in Sonderschulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen. Im Rest der Welt wird behindertes Leben oftmals zuhause versteckt, oder es endet mit einem frühen Tod. Diese Umstände verhindern einen direkten, persönlichen Kontakt und führen dazu, dass Behinderung abstrakt gesehen wird. Wir konfrontieren uns nur selten mit unserer eigenen Komplizenschaft bei der sozialen Ausgrenzung Behinderter.