„Wo die Penna und Stroma schlafen“

In immer mehr Krankenhäusern – wie im Klinikum Prenzlauer Berg, Fröbelstraße 15 – werden Patienten nach Möglichkeit erst am Tag ihrer OP aufgenommen, so auch im Falle von Herrn P. Einer Knochengeschichte wegen, die nicht der Rede wert ist, bringt sie doch keinerlei Rentenansprüche mit sich, wird sich der arbeitslose Historiker dieser Tage einer Fußoperation unterziehen. Für Herrn P. ist das nicht die erste Operation, nur wurde ihm dieses Mal von stationärer Seite bedeutet, es bestünde keine medizinische Notwendigkeit, dass er bereits am Vortag ein Krankenbett beansprucht. Bei einer „simplen“ OP am Sprunggelenk, wo nur ein paar Schrauben rausgenommen werden, gebe es Ärger mit der Kasse. – ‚Was heißt hier simpel?’, fragt sich Herr P. ‚Sind meine Füße primitiv?!’
Der Tag vor der Operation war und ist von entscheidender Bedeutung für den späteren Heilungsprozess…, denkt Herr P. Dem operativen Eingriff ins Innere müsse sozusagen die innere Einkehr vorausgehen. Was waren das noch für Zeiten: Früh morgens „einchecken“ im Büro der Oberschwester. Ein erstes Frühstück, dann Visite, vielleicht noch ein kurzer Spaziergang über die Stationsflure, und noch vor dem Mittagessen wurde Blut abgenommen, dann Anamnese im Arztzimmer. Und am Nachmittag schaute der Anästhesist vorbei, zwecks Aufklärung. – Alles in allem erfuhr Herr P. an Tagen wie diesen eine Aufmerksamkeit, die ihm im gewöhnlichen Leben nie zuteil geworden ist.
Die Tage danach können sehr langweilig werden. Es sei denn, man hat Schmerzen oder gibt vor, welche zu haben und kommt in den Genuss verschiedener rauschverheißender Betäubungsmittel. Oder man ist wie Herr P. beinahe von Beruf Zeitgeschichtler und geradezu entzückt von den alten Gängen, dem Treppenhaus oder dem kleinen Park auf dem Gelände der Klinik. Bei gutem Wetter und besserer Gesundheit sitzt er hier auf der Bank, eben dann, wenn das Personal sich nicht mehr ganz für einen interessiert. Vielleicht lässt er sich mit seinem kranken Fuß auch wieder vom katholischen Krankenhauspfarrer in den Park schieben. Herr P. glaubt zwar nicht an Gott, aber er findet es eben sehr schade, dass es ihn nicht gibt. Und hat nicht schon Ratzinger gesagt: Wer nicht an Gott glaubt, sollte sein Fehlen wenigstens bedauern. Eine Welt OHNE Gott, das wäre ja der pure Kapitalismus!
Kommt drauf an, was man unter Kapitalismus versteht. Früher ist man in dem Haus in der Fröbelstraße 15 nach der fünften Nacht in Folge der Polizei übergeben worden! Und in den meisten Fällen ging’s ab ins Arbeitshaus nach Rummelsburg! Bis zu 5.000 Leute pro Nacht fanden in dem roten Backsteinbau Zuflucht, allerdings waren es keine Patienten. Im damaligen städtischen Obdachlosenasyl hat es auch keine Ein- und Zweibettzimmer gegeben, dafür aber etliche Schlafsäle. Zur Jahreswende 1911 hatten hier siebzig Menschen unter schlimmsten Schmerzen ihr Leben verloren. Die Berliner waren entsetzt, ja selbst die Kaiserin ließ (durch ihren Kammerherrn von Winterfeldt) dem Bürgermeister Kirschner ihr Beileid ausdrücken, so groß sei der Schock gewesen. Wenngleich viele der gutsituierten Bürger auch aufatmeten. Denn zum Glück war es ja keine Epidemie, nichts Ansteckendes. Nur eine Fischvergiftung. „Gewöhnlich ist ein Leichnam ein stummes unansehnliches Ding“, schrieb Rosa Luxemburg daraufhin. „Es gibt aber Leichen, die lauter reden als Posaunen und heller leuchten als Fackeln.“
In der Aufnahmehalle stand damals noch eine Palme, erzählt Herr P., und genauso wurde das Asyl genannt: „Mensch. De Palme, det weeste nich?“, liest man in Falladas „Ein Mann will nach oben“. Und weiter: „Det is de Herberje zur Heimat, die haben wir jrade vis-à-vis! Wo die Penna und Stroma schlafen…“ Irgendwie tun sie das auch heute noch.
Nicht nur die Bildungsbürger aus dem Prenzlauer Berg – auch die Mühseligen und Beladenen finden im Krankheitsfall in der Fröbelstraße Aufnahme. Im Wartezimmer beim Empfang auf der ersten Etage steht übrigens immer noch ein kleiner Gummibaum. Das alte Gebäude ist nicht gerade als Kempinski unter den Berliner Kliniken bekannt, eher als „Krankenhaus am Rande der Stadt“, obschon es auch hier einen so genannten Dubai-Flügel für die Privaten gibt. Schließlich muss ja irgendwo das Geld herkommen für die Unbehausten, von denen an diesem Ort wohl keiner mehr an einer Fischvergiftung sterben wird.
Gut behandelt, nicht nur im medizinischen Sinne, wird auch Herr P. Wenn er am OP-Tag noch ein Teechen trinken will, sollte er besser in aller Frühe aufstehen, vor fünf Uhr. Von da an ist absolute Nüchternheit geboten, während sich dann langsam im Magen dieses flaue Gefühl einstellen wird; die Beine immer schwerer werden – und auch die Gedanken…

Karsten Krampitz

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