Sie trägt eine randlose Brille und ist so 50 plus. „Ich bin die Rita. Sie haben einen Termin bei mir.“, sagt sie und führt mich in einen schmalen Raum mit einer Liege und einer Topfpflanze. Vorhänge verhängen die Fenster, das gedimmte Licht hält die Außenwelt auf Abstand. „Polio, oder?“, fragt sie mit Kennerinnenblick, nachdem ich meinen Pullover ausgezogen habe. „Nee, Glasknochen“, kontere ich lässig.
Wegen meines krummen Rückens muss ich mal wieder in Behandlung. Das heißt – eigentlich bin ich in Dauerbehandlung. Schon immer. Bereits als Kleinkind musste ich zum „Turnen“ – auf Bällen sitzen und Hüpfen, Beine strecken und beugen, auf dem Bauch liegen und den Kopf heben, all das gehört zu meinen frühesten Erinnerungen. Und mit Ausnahme einiger Jahre der spätpubertären Rebellion gegen den fremdbestimmt-medizinisierten Blick auf meinen Körper habe ich mich auch immer brav um meinen Rücken gekümmert und bin einmal die Woche zur Krankengymnastik gegangen – schließlich ist mit so einer Skoliose nicht zu spaßen, schlimme Dinge können da ohne „KG“ passieren, Schmerzen, Atemprobleme, Nervenquetschungen …oder eventuell auch nichts dergleichen.
Neu in der Stadt habe ich schon eine kleine Odyssee durch die Praxen hinter mir. Schließlich will ich mich ja auch nicht von irgendwem behandeln lassen sondern nur von Expert_innen für die ganz schweren Fälle. Das hatte mich zum Beispiel in den Behandlungsraum von Herrn Zwickel gebracht. Herr Zwickel ließ mich vor seiner Behandlungsliege stehen und schob meine falsch hängenden Rückenpartien in etwa dahin, wo sie hingehören. Ich durfte mich dabei an der Liege festhalten. „So“, sagte er anschließend feierlich. Manchmal ließ er mich auch selbst was machen. „Und action!“ rief er dann, wenn ich loslegen sollte.
Herr Zwickel war offensichtlich überfordert mit Glasknochen Typ III. Sybille hingegen war bei Fällen wie mir ganz in ihrem Element. Neue Praxis, neues Glück, dachte ich – Sybille hatte eine spezielle Zusatz-Ausbildung gemacht nach der Theorie von Katharina Schroth, der Säulenheiligen der krummen Rücken dieser Welt, – endlich mal eine, die sich auskannte. Gleich in der ersten Stunde musste ich mich ausziehen. Sybille machte Fotos von mir von allen Seiten. Sie selbst behielt ihr pastellfarbenes, mit Strass-Steinchen besetztes T-Shirt an. „Hier, da – Ihr Rippenbuckel!“, rief sie. Sie zeigte mir meine Problemzone auf dem Display ihrer Kamera.
Rippenbuckel – interessant, ich wusste gar nicht, dass ich so was habe. Bei den ersten Übungen, die ich ebenfalls nackt durchführen musste, runzelte Sybille die Stirn. „Sie sind ja schon ganz verknöchert!“, stellte sie fest und schaute vorwurfsvoll auf meinen Rücken. „Wissen Sie eigentlich, was da alles noch passieren kann? Hat das Ihnen denn noch nie jemand gesagt? Warum sind Sie eigentlich nicht operiert?“, fragte Sybille. Die Antworten blieb ich ihr schuldig.
„Kann man denn da noch was machen?“, fragte ich eingeschüchtert. Es gab Hoffnung – in Gestalt von Sybilles Übungsprogramm. Das ließ sich auch ganz gut an – die krummen Partien wurden gestreckt und bewegt, die Muskeln gestärkt. Was mir Sorgen machte war Sybille selbst. Die Frau war eigenartig. Sie sprach immer von „uns“, wenn sie mich meinte: „Na, haben wir uns verspannt?“ „Festhalten, festhalten!!!“ schrie sie, wenn ich eine Muskelpartie angespannt hatte. „Und: Löööööööööösen“, ließ sie mit einem melodischen Singsang ihrem Mund entgleiten, wenn ich die Partie wieder entspannen sollte.
Bei ihrem ersten „Festhalten–Lööösen-Konzert“ dachte ich noch, das sei ein Witz. Doch Sybille meinte das ernst. Richtig ernst. Sie war engagiert bei der Sache. Denn ich war ein echter Problemfall. Meine medizinische Geschichte fragte sie ab, Geschwister, Eltern, woher denn diese Gene kämen. Die Komplikationen von schwerer Skoliose schilderte sie mir in allen Farben. „Sie atmen ja so schnell“, bemerkte sie öfter tadelnd. Irgendwie war ich wohl falsch, dachte ich – oder zumindest falsch in dieser Praxis. Ich arbeitete das Physiotherapie-Rezept vom Arzt ab und guckte mich nach einer neuen Praxis um.
Und jetzt liege ich bei Rita auf der Bank. Wie Kafkas Käfer auf dem Rücken, Ritas Gesicht dicht über meinem. „Der Atem fliiiieeeßt“, melodiert sie. Ich bin verwirrt. „Heißt das, ich soll besonders tief atmen oder ganz normal?“, frage ich. „Äh, also einfach weiteratmen, nicht aufhören“, sagt Rita fahrig.
Rita ist Spezialistin in „Voijta“-Therapie, das hat sie mir vorher erklärt. Mit „Vojta“ verbinden einige behinderte Menschen traumatische Kindheitserfahrungen. Das weiß ich von Freunden von mir, die eine Spastik haben. Da wurden Gliedmaßen schmerzvoll gezerrt, stundenlange Stehübungen gemacht, auch die Eltern wurden gemahnt, mit den Kindern regelmäßig selbst zu üben und deren Schmerzen zu ignorieren. Was die Therapie nach Vojta für meinen krummen Rücken bewirken könne, ist mir noch schleierhaft. Bisher sind mir andere Methoden als sinnvoller bei Skoliose vermittelt worden. Aber immerhin hat Rita die Vojta-Therapie kreativ erweitert. Oder ist ihr Style sogar im Sinne des Meisters? Was weiß ich schon als uneingeweihte Banausin.
„Stellen Sie sich vor, ihr Mundraum ist weit geöffnet“, fordert Rita mich auf. Irritiert versuche ich, ihre Muskelübungen zu befolgen und gleichzeitig an meinen Mundraum zu denken. Das ist gar nicht so einfach. Bei der Assoziation „Zahnarzt“ klappt es dann. Oder doch nicht? Rita klärt mich auf: „Die Kiefergelenke sind direkt mit dem Zwerchfell verbunden. Wenn Sie die Kiefergelenke entspannen, dann kann Ihr Zwerchfell besser atmen und das stützt ja den ganzen Rücken.“ „Ach so“, sage ich. „Sie können sich auch vorstellen, Ihre Kiefergelenke entfernen sich von einander. Oder einfach: Ihre Kiefergelenke entspannen sich,“, schlägt Rita vor. Offenbar haben in meinem Fall „Zahnarzt“ und Zwerchfell wohl keinen harmonischen Zweiklang gebildet.
Kiefergelenke entspannen, aha, aha. Simpel gestrickt wie ich bin komme ich mit dieser Anweisung am besten klar. Die Mundraumakrobatik ist indes nur was zum Aufwärmen. „Jetzt wollen wir singen!“, verkündet Rita freudestrahlend. Ich schaue sie entsetzt an. „Aaaaaah!“, singt Rita. „Kommen Sie, singen Sie mit mir!“ „Äh…Aah“, mache ich zögernd. Dann muss ich lachen. Rita schaut mich vorwurfsvoll an. Vielleicht ist mein Zwerchfell jetzt wieder verspannt.
Nachdem ich mich wieder eingekriegt und ein paar mal eingestimmt habe in Ritas „Aaaaa, Aaaah“, bringt sie ihre Geheimwaffe in Stellung. „Kennen Sie die Hu-Atmung?“, fragt sie heimtückisch. „Bitte, was?!“ „Wir wecken jetzt Ihren Atem! Hu! Hu! Stoßen Sie das Hu hervor!“ Als total tolerant-vorurteilsfreier Mensch tue ich mein Bestes. Ich gebe alles. Dennoch: Nach etwa 10 Sekunden kann ich nicht mehr. Statt Hu! Hu! kommt nur Hahaha aus mir heraus. Rita schaut ernst. „OK. Dann atmen Sie jetzt mit mir ganz tief ein. Und beim Ausatmen seufzen wir gemeinsam!“ Super, endlich mal eine Übung, die meiner momentanen Gefühlslage entspricht, denke ich. Ich seufze. Ausgiebig. „Und, merken Sie schon was?“, fragt Rita. „Hu“, sage ich.