Krüppelheim und Fickmanufaktur – Entrechtung durch die Zuweisung von Hilfsbedürftigkeit

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe Alle, die ihr euch den beiden Geschlechter nicht eindeutig zugehörig fühlt!*

Zunächst möchte ich um Nachsicht bitten für mein antiquiertes Sprechen. Wichtiger als die erwartbare Versicherung, dass ich trotz des Verzichtes auf Binnen-I und Gender-Gap alle meine, ist mir der Hinweis, dass ich trotzdem eine feministische Perspektive einnehme. Geschlechtergerechtigkeit war und ist mir viele Mühen wert, sowohl in meinem Beziehungsleben als auch als Sexualberater und Arbeitgeber  – ob es nun Rollenvorbilder angeht, die Verteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit oder sexuelle Muster.

Als erstes möchte ich einen Witz erzählen. Er soll eine Art Galionsfigur des Themas sein und ist – das haben Witze oft an sich – ziemlich inkorrekt. Doch er ist so schön bezeichnend. Und er ist schon ziemlich alt, hat also – wie man so sagt – einen Bart. Beides lässt sich vom Erzählenden auch sagen. Alt und mit Bart passt also, denn, wenn ich hier über die Verwertung der Körper und die damit einhergehende Zuweisung von Attraktivität und Erotik rede, dann auch über die Tradierungen und Herkünfte dieser Zuschreibungen und Stigmata.

Aber jetzt kommt endlich der Witz. Ich biete ihn so dar, wie er am Stammtisch erzählt wird:

Im Puff klingelt es. Die Puffmutter steht auf und öffnet die Tür. Aber sie sieht niemanden. Sie will die Tür wieder schließen und schaut dabei nach unten. Da liegt ein Mann ohne Arme und ohne Beine.

„Huch!“, ruft sie erschrocken. „Was wollen Sie denn hier?!“

Klingelstreiche … Die Frage: „Wie haben Sie den geklingelt?“, taugt auch im alten Rom schon für einen derben Scherz.

„Na“, antwortet er, „was denken Sie, wie ich geklingelt habe …?“

Der Witz kann deshalb als Galionsfigur für unser Thema herhalten, weil er sich zum einen in althergebrachten Klischees bewegt und sie zum anderen aber durchbricht. Das geschieht in der Hauptsache in Bezug auf Behindertenklischees. Die Hausdame sieht den Freier erst einmal gar nicht. Er ist ganz unten. Sie nimmt ihn erst beim Schließen der Tür – beim Akt des Ausschlusses also – wahr. Und auch dann versteht sie nicht, was er denn hier will. Eine Dame aus der Sexbranche kann sich nicht vorstellen, was ein behinderter Mann im Bordell will.

Die Sexualität durchbricht diese Klischees. Und hier kommen wir nun auch zu den Klischees und Vorgaben in Bezug auf Weiblichkeit und folgerichtig in Bezug auf Prostitution.

Ganz klar: der Gast ist männlich. Nur so kann er klingeln. Die sexuelle Kraft wird phallisch gedacht, letztlich auch die Befreiung. Der ganze Witz bewegt sich also in einem heteronormativen und patriarchalen Rahmen.

Jetzt könnt ihr fragen: Warum nimmst du dann gerade diesen? Nicht zuletzt deshalb, weil es um die Realität von Sexarbeit geht, und die findet zu einem sehr großen Teil nun mal in einem solchen Rahmen statt; also: Männer nehmen sexuelle Dienste in Anspruch, Frauen erbringen sie. Natürlich gibt es auch andere sogar tradierte Konstellationen – im schwulen Bereich zum Beispiel; oder die Lustknaben, die es von der Antike an bis in Anfängen der Moderne hinein nicht nur für Schwule gab. Die Wahrnehmung fokussierte sich jedoch immer auf den heteronormativen Teil. Die Faszination scheint von den Huren und den Freiern auszugehen. Selbstverständlich sind auch die anderen Konstellationen, die glücklicherweise zunehmen, für unser Thema relevant, jedoch nicht so bezeichnend. Das Stigma Hure bezieht sich auf das Geschlecht weiblich. Nichtweibliche Sexarbeiter sind davon nicht in ähnlich umfassender Weise betroffen wie Sexarbeiterinnen. Praktischerweise ist nun meine Perspektivedie eines heterosexuellen weißen schwerbehinderten Mannes. Damit stehe ich einerseits im Kernbereich und andererseits ziemlich am Rande.

Wenn ihr nämlich diese Kriterien männlich, heterosexuell, weiß und schwerbehindert nebeneinanderstellt – welches kennzeichnet mich primär?

Richtig: schwerbehindert.

Und damit bin ich schon mal nicht mehr richtig männlich. Weiß und heterosexuell interessiert dann noch weniger.Was meine Attraktivität betrifft, sowohl die erotische als auch die soziale, hat das verheerende Folgen.

Behinderung ist eines der wirkmächtigsten Konstrukte der Moderne. Es verbindet Hilfsbedürftigkeit und Hilfeerbringung mit öffentlichem, möglichst staatlichem Handeln. Wer durch eine körperliche oder geistige Behinderung sichtbar behindert ist, ist umfassend stigmatisiert.

Das Stigma Hure ist nicht minder wirkmächtig und fast ebenso totalitär. Fast, weil Sexarbeiterinnen ihren Job geheim halten können, wir unsere Körper nicht. Jedenfalls spielt auch hier die Hilfsbedürftigkeit eine Rolle.

Die Wohlfahrt interniert die Elenden … die Säufer*innen, Arbeitsverweiger*innen, die Liederlichen und schließlich die gefallenen Mädchen.

Ins Rettungshaus

Anfang des 19. Jahrhunderts begann hierzulande die Industrialisierung die Gesellschaft zu prägen. Die maschinelle Produktion brachte den Arbeitsmarkt hervor, auf welchem sich der Mensch als Individuum platzieren musste. Aus der Großfamilie, einen Verwandtschaftsverbund von etwa 20 bis 60 Leuten, wurde die bürgerliche Kleinfamilie aus einem Paar mit Kindern. Das soziale Netz der Großfamilie löste sich auf. Es gab ein Heer von Elenden.

Die Wohlfahrt, in Deutschland vor allem die Diakonie, befriedete die Gesellschaft, indem sie die Elenden internierte. Sie schuf und betrieb Anstalten für Arbeitsscheue, für Blinde, für gefallene Mädchen, für Trinker, für Krüppel, für Waisenkinder usw. Das Elend kam weg von der Straße.

Doch während der arbeitsscheue Alfred oder Nachbars Jette, die lieber, wenn in Rixdorf Musike war, für einen Taler mit Männern in die Büsche ging, anstatt für den gleichen Lohn den ganzen Tag in der Wäscherei zu schuften, wieder raus konnten, wenn man in den Rettungshäusern der Meinung war, sie würden von nun an sittsam und ordentlich leben, hatten Leute wie ich lebenslänglich.

Der Industriekapitalismus bewertete die Menschen nach ihrer Verwertbarkeit. Leute wie ich fielen da raus. Jette irgendwie auch, aber nicht ganz so. Jedenfalls landeten wir beide in der Anstalt.

Denn auch bei Sexarbeiterinnen greift dieses Prinzip, dass die Konstruktion von Hilfebedürftigkeit zu extremer Entrechtung und starkem Ausschluss führt.

Vor etwa 200 Jahren wurden sie erstmals als der Hilfe, ja sogar der Rettung, bedürftig definiert. Sogleich wurden sie ohne rechtliche Grundlagen und zumeist gegen ihren Willen den bereits existierenden Rettungshäusern zugeführt, die sich sofort auf sie spezialisierten und professionalisierten. Infolge entstanden dann bald Regelwerke, die diese Zwangsunterbringung legitimierten.

Das Prostituiertenschutzgesetz ist dafür das jüngste Beispiel. Es wurde übrigens im selben Jahr verabschiedet wie das Bundesteilhabegesetz (BTHG), welches Behindertenhilfe und Teilhabeleistungen neu regelt. Das BTHG schreibt auf weiten Strecken den bisherigen Status als Almosenempfänger weiter fest. „Nicht unser Gesetz!“, riefen die Behindertenbewegung, andere Betroffene und sogar die Wohlfahrt. „Von wegen“, sagte die Regierung.

Die Definition der Hure als hilfsbedürftig trifft übrigens ausschließlich Frauen. Das sogenannte „schwache Geschlecht“ spielt hier genauso mit herein wie die Idee, dass eine Frau einem Mann gehören muss.

Auch das Zuhälterwesen entwickelte sich mit der Industrialisierung in die Richtung, wie wir es bislang kennen; ebenso die Bordelle als geschlossene und massiv von der Straßenöffentlichkeit abgegrenzte Fickmanufakturen. Auch in denen für die Oberschicht saßen die Frauen trotz Champagner und prächtigen Kleidern in einem – wenn auch goldenen – Käfig.

Kriterienkataloge für den Körper

Die Prostitution spiegelt die erotische Kultur der Gesellschaft. Auch hier. Das bürgerliche Ideal der Familie zeigte sich in der Abgeschlossenheit, die für die Frau Gefangenschaft bedeutete – für die Gattin übrigens mehr als für die Hure.

Dass Attraktivität unmittelbar mit Sexualität verknüpft wird, ist ziemlich neu. Allein den Sprachgebrauch gibt es noch nicht so lang. „Attraktiv“ kommt eher aus dem geschäftlichen Bereich. Vorher war ein Mensch betörend, liebreizend, anmutig…

Wer mit wem Sex hatte, hatte viel mit dem Status, der Machtausübung und der Gelegenheit zur Lust zu tun. Die Vorstellung, dass Sex nur innerhalb einer Ehe stattzufinden hätte, oder auch unter Menschen, die vom Status der Attraktivität etwa gleich waren, war vor der Industrialisierung kaum verbreitet. Erst vor etwa 50 Jahren, als mit der Pille und der freien Liebe der 68er Sexualität und Fortpflanzung weniger stark verbunden waren, konnte die Vorstellung greifen, dass Attraktivität eine Art Voraussetzung für Sexualität wäre.

Bezüglich Behinderung wird in starkem Maß von außen definiert. Diagnose- und Symptomkataloge gab es schon in den Anfängen der modernen Medizin.

Bald wurde die gerade erst entstandene Wissenschaft der Genetik relevant. Sie entwickelte die Vorstellung von Volksgesundheit. Das Krankhafte – sprich Krüppel, Geisteskranke und Kriminelle – musste von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden. Die isolierte Unterbringung in Anstalten, zudem noch nach Geschlechtern getrennt, gab das schon strukturell vor. Die Zuschreibung von sexuellem Unwert erfolgte schon allein durch die Struktur der Hilfeerbringung.

Vor den sogenannten Euthanasieprogrammen der Nazis gab es das „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“, welches die Zwangssterilisation anordnete und regelte. Die Erfassung der Euthanasieopfer erfolgte über Listen, auf denen in den Einrichtungen für die Bewohner Kriterien angekreuzt wurden. Ab einer gewissen Punktzahl kamst du ins Gas.

Auch wenn man Ermordetwerden in der Nazizeit und aktive Sterbehilfe heute nicht so ohne weiteres zusammenwerfen kann, funktioniert die Sache mit der Zuschreibung diesbezüglich bis heute so. Um in der Schweiz oder den Niederlanden Sterbehilfe zu erhalten, musst du Merkmale des Unwerts vorweisen.

Ich würde mit meiner Kraftlosigkeit, der Notwendigkeit der Beatmung, der totalen Abhängigkeit von Hilfepersonen das Gift ohne weiteres verabreicht bekommen. Während die meisten Leute hier den Gnadentod verweigert bekämen – egal wie sehr sie ihn sich wünschen, weil sie Liebeskummer haben, die AfD im Bundestag nicht ertragen oder unter einer Depression leiden. Sie bringen noch genug Wert ins gesellschaftliche Portmonee. Der kann nicht einfach so an den Knochenmann verschenkt werden.

Die Industrialisierung schuf auch scheinbar sachliche Kriterienkataloge für den Körper in Form von Konfektions-, Schuh-, Brustgrößen und -formen. Sie finden sich fast auf jeder Setcard von Sexarbeiterinnen, sind also auch erotische Wertanzeigen.

Mittlerweile gibt es unendlich viele Skalen und Kriterienkataloge. Selbstbestimmt wie wir sind, füllen wir mittlerweile die meisten selbst aus. Wir finden sie in Zeitschriften und im Netz. Auch darüber hinaus bringen wir uns dort mit Fotos (zumeist Selfies) auf dem Markt der Fleischqualität, des Begehrtwerdens in Stellung.

Selbstredend findet die Zuweisung von Attraktivität in stärkerem Maß und nachdrücklicher weiterhin von außen statt. Das legitime Anliegen, von Nutzern sexueller Dienste, diese auch in ihrer Qualität zu bewerten, weil es sich ja um eine Dienstleistung handelt, geht oft absurd schief. In einem Freierportal kursieren zum Beispiel zwei Blowjob-Skalen, die verächtlicher und sexistischer nicht sein können. Oder: in der Werbung eines FKK-Clubs ist von „Premiumgirls“ die Rede.

Prostituierte des Fin de Siécle

Auch hier der Verweis darauf, dass sich in der Prostitution die allgemeine erotische Kultur spiegelt und bündelt. Die Wahrnehmung von Attraktivität ist zu großen Teilen die Wahrnehmung von Attraktivität von Frauen, wobei diese über ihre Körper erfolgt.

Worüber selten geredet wird, ist die Tatsache, dass die meisten Sexarbeiterinnen gar nicht die „Premiumgirls“ sind. Es ist sogar erstaunlich, wie viele Frauen, die deutlich außerhalb der allgemeinen Schönheitsvorgaben liegen, ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit bestreiten können. Ich finde, dass es ein Verweis darauf ist, dass die Prostitution Befreiungspotenzial aufweist. Viele Sexarbeiterinnen haben ein viel unmittelbareres Verhältnis zu ihrem Körper und damit auch zu dem ihrer Kunden, als andere Leute.

Ich möchte am Ende den Maler Toulouse Lautrec, 1864-1901, erwähnen – einen körperlich zu kurz gekommenen schief gewachsenen Adligen. Sein Verhältnis zu Prostituierten und seine Zeichnungen und Gemälde von ihnen stellen noch heute ein Faszinosum dar. Er soll bei den Pariser Prostituierten des Fin de Siécle sehr beliebt gewesen sein. Gelegentlich wohnte er sogar bei ihnen und schlief des Nachts an sie geschmiegt in ihren Betten. Hier traf die Stigmatisierung beide Gruppen – Behinderte und Huren – noch in ähnlich harter Weise, weil die Sexualmoral wesentlich rigider war. Aber ihre Körper waren auch damals schon mit gegensätzlichen Bedeutungen aufgeladen: Hier der hinfällige, von der Fortpflanzung auszuschließende leistungsunfähige; da der begehrenswerte, sexuell verwertbare. Beide litten darunter, weil die extrem hohe Bedeutung meist ihren realen Bedürfnissen zuwiderlief. Das Zusammensein schuf vielleicht so etwas wie einen Ausgleich zu dieser extrem starken Exponiertheit. Der begehrenswerte, der Leidenschaft zur Verfügung gestellte Körper wurde vom hinfälligen, dysfunktionalen Körper des Malers etwas heruntergeholt; umgekehrt hob die Intimität (und zwar mehr die alltägliche des Übernachtens als die sexuelle) mit dem erotisch hoch bewerteten Körper der Frau den abgewerteten Körper an.

Und gleichzeitig – und das ist meiner Meinung nach viel wichtiger – sprengt eine solche Konstellation die Zuordnung. Eigentlich dürfen solch unterschiedlich bewerteten Körper sich nicht offen erotisch aufeinander beziehen. Deshalb hat so etwas immer auch eine utopische Dimension.

Mittlerweile wird diese vor allem in der Kunst vielfältig aufgegriffen. Behinderte Körper werden im Tanz, bei performativen Acts, aber auch beim Film und auf der Bühne als Provokation verwendet und aus dieser Provokation heraus Wege des leiblichen Gleichseins und leiblicher Teilhabe gesucht.

 

Referat auf der Mit-mach-Konferenz der Kampagne „Sexarbeit ist Arbeit – Respekt!“ in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, am 28.4.2018

 

Matthias Vernaldi

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