Besuch bei Opa Wilhelm

Manche Dinge werden sich nie ändern. „Peter, wo bleibst du? Wir kommen noch zu spät. Ich hab Oma gesagt, dass wir viertel nach zwölf da sind.“ Ich hasse das. Ich bin Mitte zwanzig und habe mich damit abgefunden, dass Älterwerden Nachteile mit sich bringt. Plötzlich versteht man, warum Eltern kaputt von der Arbeit kommen – man ist selbst der Typ, der vom Chef angeschissen wird. Der Bauch bekommt die ersten Ausbeulungen und die fetten Haarwuste, die man am eigenen Bruder immer so eklig fand, hat man nun selbst auf der Brust. Aber all die Ärgernisse des Älterwerdens
hätten einen Sinn, wenn die Strapazen der Jugend endlich vorüber wären. „Peeeteeeer! Wir kommen zu spääääät!“ Ok. Nichts für ungut. Manche Dinge ändern sich nie. Auch nicht im Alter.

Mein Bruder? Ich hatte meinen Bruder erwähnt, nicht wahr? Der fläzt hinterm Steuer – hat schließlich bereits seinen eigenen Wagen, der Typ. Peeeteeeer war inzwischen angezogen und hatte sich auf dem Rücksitz verstaut. Nachdem auch Mütterchen und ihr Freund Platz genommen hatten, ging es auf zu Opa Wilhelm.

Eigentlich ist Wilhelm ein ziemlich angenehmer Zeitgenosse. Immer eine Zigarette
im Mund, etwas kauzig, was repräsentative Bekleidung angeht, großer Freund aller Kreuzworträtsel und mit einer gesunden Abneigung gegen Geschwätz, das um des Geschwätzes willen gehalten wird. Ein alter Mann mit Hang zu kleinen Albernheiten und einer gehörigen Portion Wut auf die neue Gesellschaft. Er konnte ihr, glaube
ich, nicht verzeihen, dass sie sich entgegen den Gesetzen des wissenschaftlichen
Materialismus doch durchgesetzt hatte. Ein Großmeister im Ohrenwackelnblieb er. Das kann man in allen Gesellschaften machen. Er, Wilhelm, bewohnt mit seiner Frau, die ein jahrzehntelanges und vollkommen erfolgloses Besserungsprogramm für diesen sympathischen Herrn aufgelegt hatte, ein kleines Haus. Gleich hinter dem Friedhof. Das Besserungsprogramm bestand vor allem in Ermahnungen, weniger zu rauchen, und weil er das immer überhörte, in der Aufforderung besser zuzuhören.

An eben jenem Friedhof fuhren wir grad vorüber. „Lass uns direkt über den Friedhof fahren, wir kommen sonst noch zu spät – ich hab Oma gesagt….“ ….das war die Mutter. Manche Dinge ändern sich nie.
Direkt über den Friedhof fahren? Der Südwestfriedhof war ein großer Friedhof
– die Toten aus der großen Stadt wurden hier bestattet. Einige Gräber waren hundert und mehr Jahre alt. Der Pomp der Kaiserzeit mischte sich mit dem Pomp der Nazis, zwischendurch ein paar Massengräber mit sowjetischen Soldaten… Nein, an der Größe der Wege lag es nicht, dass es mir unangenehm war, mit dem Auto über den Friedhof zu fahren. An manchen Stellen hätten locker zwei Panzer nebeneinander gepasst.

Ich glaub, ich bin in einigen Dingen
einfach konservativ. Auch wenn auf einem Friedhof genug Platz ist, finde ich, sollte man nicht mit dem Auto drüber fahren. Mein schwacher Appell an das Gesetz und die Autorität der Verkehrsbeschilderung „Schau mal – da steht: ‚Durchfahrt‘ nur mit Sondergenehmigung!“ wurde schlicht ignoriert. Wir fuhren also mit dem japanischen Mittelklassewagen meines Bruders quer über den Friedhof. Vorbei an wilhelminischen Gruften, den Gräbern gefallener Wehrmachtshauptmänner und
eben den bereits erwähnten Massengräbern. Den Panzer dort hatte man, das nur am Rande, inzwischen abmontiert.

Schließlich hielten wir an einem kleinen Haus. Vor dem Haus eine ganze
Reihe japanischer Mittelklassewagen. Wir waren also nicht die einzigen Besucher und auch die anderen hatten offensichtlich den direkten Weg gewählt. Vorbei an wilhel… Ich wiederhole mich.

Wir betraten das Haus und da stand er: Wilhelm. Gehüllt in ein schmuckloses Steingefäß mit kupfernem Deckel, war er der Mittelpunkt der ganzen sonderbaren
Versammlung. Alle möglichen ehemaligen Arbeitskollegen waren da, allerhand nähere und fernere Verwandte. Ich betrachtete die Anwesenden genau. Mich gemahnen solche Versammlungen immer sehr ans Älterwerden. Nicht, weil sie sich zumeist um einen frisch Verstorbenen drehen, sondern weil man mal wieder Gelegenheit hat, die gesamte bucklige Verwandtschaft auf einen Haufen zu sehen. Man kann dann immer gut sehen, wer graue Haare bekommen hat, wer der letzten
vorhandenen gerade verlustig ging und so weiter. Aber darum soll es gar nicht gehen. Im Mittelpunkt stand, wie gesagt Wilhelm.
Die Rede zur Beerdigung hielt nicht etwa ein Pfarrer, sondern wohl auch so ein ehemaliger Arbeitskollege. Der Mann war gut ausgesucht. Man merkte ihm an, dass er irgendein Parteiamt innegehabt haben musste. Die Floskeln, in denen er die vorbildliche und pflichtbewusste Art und die gewissenhafte Pflichterfüllung Wilhelms lobte, kamen ihm flüssig über die Lippen. Er hatte diese Worte sicher schon oft, vielleicht in anderem Zusammenhang, gebraucht. Man hätte denken können, man sei auf einer Prämienverleihung oder Wilhelm würde gerade irgendein
Orden angehängt. Aber nein, an der schmucklosen Urne war kein Platz für irgendeinen Orden.

Ach, die Urne. Jetzt, wo ich genauer hinschaute, erinnerte sie mich an irgendwas.
Diese Musterung der Steine? Wo hatte ich das gesehen? Hm – irgendwie sah das aus wie die Arbeitsplatte in der Küche meiner Mutter. „War die Urne vielleicht einfach aus Holz – mit Laminat überzo…“ Diesen geschmacklosen Gedanken
verbat ich mir, kurz bevor ich ihn ganz zu Ende gedacht hatte. Das war knapp. Aber er kam in ähnlicher Form wieder. „Aus den Resten einer Arbeitspl…“

Ich lauschte weiter der Rede des unbekannten Arbeitskollegen. „Kameradschaft…
Treue…die Kinder…die Ehe…“ Und dann kam er – der Satz: „…und in all unserer Trauer dürfen wir nicht vergessen, dass Wilhelm nicht von uns gegangen ist, er ist uns lediglich vorausgegangen.“ Ich war noch nicht auf vielen Beerdigungen, aber dieser Satz kam so oder so ähnlich immer vor. Was für ein Unfug.

Das letzte Mal hatte ich diesen Satz bei der Beerdigung eines entfernten Freundes gehört. Es kam einer Verspottung gleich – wenn jener Freund eines nicht geglaubt hätte, dann, dass er uns alle im Paradies wiedersehen würde. Aber auch für die damals Anwesenden war es eine Verhöhnung. Größtenteils Freunde, meist in der Kleidung, die sie sonst auch trugen – schwarze Kapuzenpullover, praktisch und kleidsam sowohl bei Demos als auch bei Beerdigungen, konnten wohl mit dem Satz nicht sonderlich viel anfangen.

Aber egal – bei jener Beerdigung wurde die Rede von einem Professionellen
gehalten, einem Pfarrer, der den Quatsch wahrscheinlich selber glaubte. Bei dem Kollegen Wilhelms war ich erheblich schockiert.
Hatten diese alten SED-Heinis jahrelang den Marxismus-Leninismus gepredigt, um nun hinter einen der Grundbestandteile zurückzufallen? Es gibt kein Paradies, es sei denn, wir errichten es auf Erden.

Nicht, dass ich ein Freund oder Sympathisant des Marxismus gewesen wäre, aber Wilhelms Auffassungen dazu waren mir immer mehr oder weniger sympathisch.
Immer noch besser als irgendwelche verbitterten Naziopis, dachte ich zumeist. Jedenfalls konnte sich auch dieser grauhaarige Hobbyprediger diesen Satz nicht sparen, vielleicht fand er den ja auch selber bekloppt und dachte sich aber, dass er geeignet sei, die anwesenden älteren Herrschaften, die ohnehin größtenteils ein bisschen gaga wirkten, zu trösten.
Überhaupt – was hatte dieser Typ eigentlich zu sagen? Kann man nicht mal die Klappe halten, wenigstens wenn einer grad gestorben ist? Muss man immer weiter sabbeln? Reden, reden und beschwören, was für ein toller Mensch Wilhelm war, und dabei feierlich gucken. Die Antwort lautet wahrscheinlich:
„Manche Dinge werden sich halt nie ändern.“

Der Rest des Besuchs ist schnell erzählt. Der Urnenträger – ein Typ mit unfeierlicher Schlägervisage und blauem Auge – trug die Urne zu irgendeinem
Loch. Versenkte sie mit einem leisen „klonk“. Die Verwandtschaft und die Arbeitskollegen sprachen meiner sichtlich gefassten Großmutter ihr Beileid aus und gingen. Meine Mutter sprach noch kurz mit meinem Vater. Der war auch von irgendwoher aufgetaucht. Immerhin, die wahrscheinlich ersten Worte ohne Beisein
eines Anwalts in den letzten zehn Jahren. Ich habe sicherheitshalber nicht hingehört.

Auf dem Weg zum Auto sagte meine Mutter noch ein paar Worte über die schönen Tannen auf dem Friedhof und über das schlechte Wetter. Ein Thema, welches sie an diesem Tage noch öfter anreißen sollte. Dann ging es mit dem japanischen Mittelklassewagen meines Bruders zum zweiten und weitaus ätzenderen Teil der Veranstaltung. Er hatte sehr viel mit Kaffeetassengeklimper und Kuchenessen zu tun.

H.K.E. Peter R. Brochnes

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