Wenn auf der Rückseite des Behindertenausweises eine Marke klebt, kann man damit in allen Nahverkehrsbahnen (RB und RE) kostenlos fahren, solange sie im „Verbundgebiet“ liegen. Was Nachteilsausgleich bei der Deutschen Bahn allerdings praktisch bedeutet, kann man kaum beschreiben. Man muss es erleben… Hier dennoch ein Versuch.
Ich möchte verreisen. Eine Verbindung zu der von mir angestrebten Stadt ist im Internet schnell gefunden. Jedoch bekommt man keinen Zugriff auf das Nahverkehr-Streckenverzeichnis. Mir gelingt es nicht, die verbund´-
freien Streckenabschnitte zu ermitteln, für die ich
noch eine Fahrkarte bräuchte. Und so bleibt nur der Weg ins Reisezentrum.
Nach einer halben Stunde Anstehen bin ich an der Reihe. Die Dame betrachtet mich ungläubig: Mit Regionalzügen eine so weite Strecke; ob ich mir auch sicher sei. Was ich jetzt von ihr wolle. Geduldig erkläre ich, dass es leider weder im Internet noch am Automaten eine Zugriffsmöglichkeit auf das Streckenverzeichnis gäbe, dass sie dieses also am besten jetzt holen solle, dann könnten wir schnell nachschauen. Derart aufgeklärt verlässt die Dame mich auf unabsehbare Zeit. Schließlich kommt sie mit einem Stapel dicker Bücher wieder: Streckenverzeichnisse der Bundesländer. Dabei wirft sie einen flüchtigen Blick auf die Menschenschlange hinter mir, der zu einem vorwurfsvollen Blick in meine Richtung wird. Sie habe auch nicht ewig Zeit, murmelt sie. Ich überhöre diese Worte geduldig lächelnd. Endlich hebt sie den Kopf und teilt mir mit, dass ihrer Meinung nach nur eine einzige Strecke nicht im Verbundgebiet liege. Sie berechnet einen Fahrpreis von 4 Euro und sieht mich an, wie die Deutsche Bahn persönlich einen ansehen würde, wenn man sie eine viertel Stunde Arbeitszeit kostet und dann für ganze 4 Euro 500 km weit reisen möchte. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, außerdem kommen mir Zweifel. Ob es sicher sei, dass dies die einzige Strecke sei. Was solle das denn bedeuten? Natürlich sei es die einzige. Sie habe schließlich nachgeschaut. Ich habe immer noch Zweifel und frage, ob sie mir eine kolorierte Deutschlandkarte verkaufen könne, damit ich sie gegebenenfalls in den Zügen bei der Kontrolle vorzeigen könne. Zwei Euro verlangt ihre Stimme, fügt jedoch sofort hinzu, dass die Karten momentan nicht vorrätig seien. Also keine Karte. Bleibt nur, ihrer Auskunft zu vertrauen.
Am nächsten Tag beginnt die Odyssee bereits beim zweiten Zug. Der Zug ist auf dem Weg nach H., jedoch spielen dort Kinder auf den Gleisen, weshalb er eine halbe Stunde in N. stehen bleibt. Danach spielen die Kinder immer noch auf den Gleisen, weshalb der Zug außerplanmäßig in N. endet. Die Bahn bittet um unser Verständnis – wahrscheinlich, weil es ihr nicht gelingt, innerhalb einer halben Stunde einige spielende Kinder von den Gleisen zu bekommen. Es gibt wenig Perfideres, als um Verständnis zu bitten und keinerlei Widerspruchsmöglichkeit zuzulassen. Wo um Himmels
Willen liegt N. überhaupt? Man schickt uns zu einer viel zu kurzen S-Bahn. Ich stehe zwischen viel zu vielen Personen vor einer defekten Toilette, die neben dem ohnehin existierenden Sauerstoffmangel durch ihren spezifischen Geruch zu einer gewissen Vernebelung aller Sinne führt. Die eingequetschten Menschen um mich herum murren, einige solidarisieren sich lautstark mit den bald streikenden Lokführern, andere diskutieren über die Privatisierung der Bahn. Ankunft in H.. Von spielenden Kindern keine Spur, dafür allerhand nach Luft schnappende Erwachsene. Mein Anschlusszug ist längst fort, anscheinend haben die Kinder nur auf unserem Gleis gespielt.
Ich dränge mich durch die Massen zum Service-Point und frage nach Regionalverbindungen. Es stellt sich heraus, dass meine Verbindung die letzte heute war, es bleibt mir nichts anderes übrig, als auf schnellere Züge umzusteigen, wenn ich heute noch ankommen möchte. Ich werfe einen Blick auf die Zugtafel und sehe einen IC, der erstaunlich schnell in die nächste Stadt fährt, in die ich muss. Auf diese Weise würde ich meine ursprüngliche Regionalzug-Verbindung noch erreichen. Ich schildere dem Schalterbeamten meine Erkenntnis. Er belehrt mich, dass die Benutzung eines IC nur bei zuggebundenen RE-Fahrkarten möglich sei. Und Behindertenausweise… also ich müsse verstehen… würden eben immer gelten und seien damit nicht zuggebunden. Ich versichere ihm, dass ich dies theoretisch schon verstünde, dass es mir aber nicht einleuchte. Ich steige also dennoch in den IC ein und diskutiere die Angelegenheit mit dem dortigen Zugbegleiter. Dieser schaut mich an, als würde ich absolut Unzumutbares von ihm verlangen, macht dann aber doch eine Ausnahme. Nach einer Hetzjagd durch den nächsten Bahnhof bekomme ich doch noch meinen Anschlusszug, womit ich wieder auf meiner ursprünglichen Verbindung bin.
In dem nächsten Zug will ich gerade aufatmen und krame in meiner Tasche, weil ich Zeit sehe, um etwas trinken zu können, als ein Fahrkartenkontrolleur vorbeikommt. Neben dem Trinken befördere ich also auch meinen Behindertenausweis aus dem Rucksack und halte ihm die gültige Wertmarke hin. Dass er nicht weitergeht, veranlasst mich zu einem Blick in sein Gesicht und dieses wiederum veranlasst mich zu Besorgnis. Er schaut meinen Behindertenausweis an, als ob hier kein Verbundgebiet sei. Ich zeige ihm auch die eine Fahrkarte, die die Dame am Schalter mir für die Zwischenstrecke verkauft hat, aber der Kontrolleur schüttelt den Kopf und belehrt mich, dass dies ein späterer Streckenabschnitt sei. Aber auch auf dieser Strecke gäbe es eine kurze verbundfreie Strecke, die wir jedoch soeben hinter uns gelassen hätten. Ich erkundige mich nach dem Fahrpreis und er schätzt ihn auf zwei Euro. Hierüber sei ich im Reisezentrum nicht informiert worden. Ob er mir die fehlende Karte vielleicht ohne Aufpreis verkaufen könne, da ich ja ohne mein Verschulden in diese Situation gekommen sei. Nun schaut er zu meiner Verwunderung noch ein bisschen gequälter und sagt schließlich, dass er das wirklich sehr gerne tun würde. Ich höre bereits das Aber. Leider, so der Kontrolleur, sei es ihnen seit Juli dieses Jahres nicht mehr möglich, in Regionalzügen Fahrkarten zu verkaufen. Dies sei sehr ärgerlich und er sei damit auch nicht einverstanden. Ich zucke die Schultern: Na, dann könne ich leider keine Fahrkarte kaufen, wir seien ja ohnehin schon an dem betreffenden Streckenabschnitt vorbei. Ich widme mich wieder meiner Wasserflasche, aber der Kontrolleur weicht nicht von meiner Seite. Ihm bliebe leider nichts anderes übrig, nuschelt er schüchtern, als nun 40 Euro von mir zu verlangen. Ich hätte leider keine gültige Fahrkarte bei mir geführt und deshalb müsse ich nun das erhöhte Entgelt zahlen. Wie bitte? Ich schildere erneut, dass ich alles in meiner Macht Stehende getan habe, um heraus zu bekommen, für welche Strecken ich eine Fahrkarte brauchte. Er findet es in meinem besonderen Fall selbst nicht angemessen, nur leider, leider, ich solle ihm glauben, dass er dies wirklich bedauert, bliebe ihm gar nichts anderes übrig. Ich atme tief ein, um nicht laut Doch zu sagen, um nicht schreiend festzustellen, dass eine solche Situation wohl nur in Deutschland möglich sei, in einem Land, wo noch jeder Fahrkartenkontrolleur sich penibel an die Anordnungen hält, selbst wenn das Zugabteil leer ist und der Streckenabschnitt längst vorbei. Er macht schließlich einen Vorschlag zur Güte, ich solle nicht gleich im Zug bezahlen, sondern die Rechnung mitnehmen und dann bei der Bahn Widerspruch einlegen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht hätte ich Glück und die Bahn würde mir die Forderung erlassen, da ja genau genommen sie selbst für diese Situation verantwortlich sei. Ich nicke energisch. Nur beweisen müsste ich es auch noch können. Widerspruch gegen den Zahlungsbescheid soll man telefonisch oder per Fax einreichen. Die Telefonnummer beginnt mit 018. Sie kostet pro Minute viele Cent.
Ein Wunder, dass es noch Behinderte gibt, die noch mit ihrem Ausweis Bahn fahren und die ihnen zustehenden Privilegien damit einfordern. Diese wiederum werden wohl spätestens mit der Bahnprivatisierung auch ein Ende haben. Schließlich sind Behindertenausweise (wie Behinderte generell) alles andere als rentabel.