„Kontinuität des Totmachens“

Gespräch mit Helmut Späthe über Psychiatrie in der DDR und das Gedenken an den nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmord.

Der heute 74jährige war bis 1984 Leiter des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Bernburg. Dieses Haus war eine der nationalsozialistischen Tötungsanstalten während des Nationalsozialismus. In ihr wurden im Rahmen der Aktion T4 mehrere Tausend Kranke und Behinderte ermordet. Späthe setzte sich mit anderen für eine Psychiatriereform in der DDR ein und war am Aufbau der vermutlich einzigen öffentlichen Gedenkstätte für den Kranken- und Behindertenmord beteiligt.

Mondkalb: Wie muss man sich die Klinik in Bernburg vorstellen, als sie dort in, als sie dort in den 1970er das erste Mal waren?

Späthe: Als ich das erste Mal in Bernburg war, fiel mir auf, dass keine Patienten rumliefen. Es gab keine. Als ich selber nach Bernburg kam und dort Chef wurde, merkte ich: Ein Großteil der Stationen war eben zugeschlossen. Wir haben dann rigoros die Patienten spazieren gehen lassen, was zum Anlass genommen wurde, dass eine Delegation zu mir kam: der Leiter des Volkspolizeikreisamtes, der Vorsitzende des Rates des Kreises und der stellvertretende Parteichef des Kreises. Die haben mit mir eine Aussprache geführt: „Wieso denn jetzt die Verrückten in Bernburg auf dem Markt spazieren gehen und dort auf den Bänken sitzen?“ Die Einrichtung müsse doch dazu da sein, dass die Kranken behandelt werden. Und das hieße doch auch, dass sie nicht einfach raus können. Die haben sich aber schnell dran gewöhnt. Es gab für mich noch eine andere schreckliche Geschichte. Ich kriegte vom Bürgermeister einen Anruf: „Schick mir mal zwanzig von Deinen Jungs, wie jedes Jahr“. Ich wusste nicht, worum es ging und habe mich erkundigt, was das hieß: „Zwanzig von den Jungs“. Das bedeutete, dass ich denen zwanzig psychisch Kranke zur Verfügung stellen sollte, die in Bernburg die Grünflächen saubermachten – altes Papier wegräumen, Kippen sammeln. Da hab ich gesagt: „Das mach ich nicht!“ Dann hab ich rausgekriegt, dass einer der Chefärzte eine Hauspatientin hatte. Ich wusste gar nicht, dass es sowas noch gibt. Hauspatientin bedeutete, dass eine Patientin, die relativ gut beieinander war, auf ihrer Station lebte und tagsüber in diese Familie ging, saubermachte, Kinder betreute. Schrecklich! Aber es war damals eben auch eine Zeit, in der hab ich dann auch mit Dienstanweisungen regiert. Dienstanweisung Nr. 1: Ab sofort ist es nicht mehr erlaubt, sogenannte Hauspatienten zu haben.

Was wussten Sie über die Rolle der Klinik als T4-Tötungsanstalt?

Als ich in Brandenburg lebte und nach Bernburg geschickt wurde, da war mir Bernburg bekannt als Ort. Ich wusste nicht, wo Bernburg liegt, nur dass Bernburg die einzige Parkinson-Spezialabteilung in der DDR hatte. Aber viel mehr wusste ich nicht. Natürlich – im Hinterkopf: „Da war irgendwas Grässliches in der Nazizeit.“ Aber so offen diskutiert wurde darüber nicht. Prof. Quandt, der damalige Direktor, empfing mich und sagte: „Ich zeig ihnen erst mal die Einrichtung. Da ist die Gärtnerei, da kriegen wir die ersten Gurken und da ist das und da ist jenes. Da ist die Tischlerei …“ Und dann kamen wir in einen Keller: „Also naja, mein Gott, hier war mal die Gaskammer. Aber damit haben wir nix zu tun. … ich hab jetzt auch gar nicht die Schlüssel dabei, der muss irgendwo beim Pförtner sein. Wenn sie das nächste Mal kommen, fragen sie den Oberpfleger Schmidt, der weiß auch wie man reinkommt.“

Wie sah der Raum damals aus?

Eine Brettertür, also schamlos einfach – mit Vorhängeschloss. Wir sind ja nur dran vorbeigegangen. Ich hab mich dann etwas belesen – viel gab es nicht. Kaul, ein Jurist, war damals meine erste Quelle. Ich muss ihnen sagen, als es dann akut wurde, dass ich nach Bernburg ging, da war es mir unheimlich, in eine Einrichtung zu gehen, wo 10 bis 20.000 Leute umgebracht wurden, keiner wusste damals genau wie viele. Mittlerweile sind wohl 7.000 dokumentiert, glaub ich. Tja, da hab ich mir zum ersten Mal diesen Raum angesehen, der von oben bis unten gefliest war … und in der Mitte stand ein Gipsblock, mit der Aufschrift „Den Opfern zum Gedenken“. Ein vertrockneter Blumenstrauß lag da – es war unwürdig.
Sie haben dann angefangen eine Ausstellung einzurichten …
Die Ausstellung sollte dazu dienen, dass Pfleger und die Patienten irgendwie merken, dass man mit kustoidaler, mit einschließender Psychiatrie nicht weiterkommt. Sie sollten sehen, dass man letztlich da landen kann, wo diese Gaskammer steht, dass durch die Diskriminierung der psychisch Kranken auch sowas wie „Lebensunwert“ fabriziert wird. Die Massierung, dieses massive Ansammeln von psychisch gestörten Menschen, führt schnell zu dem Gedanken, dass mit Therapie nicht weiterkommt. Das war ja eine der Begründungen für den Massenmord, dass Kranke außerhalb der Menschheit stehen. Deshalb mündete der psychiatriehistorische Teil, wo Krankenhausgeld, eine Zwangsjacke, die Stechuhren und ein Schlüsselbund als Insignum der Macht der Pfleger aus alten Anstalten zusammengetragen war, in einen Raum, in dem die Organisation der Aktion T4 graphisch und mit Bildern dargestellt wurde.

… und das haben die Mitarbeiter der Psychiatrie gemacht?

Das waren Mitarbeiter, das waren Ärzte, das waren Psychologen – wir hatten eine Arbeitsgruppe gegründet. Es gibt auch noch einen Film, in dem ich einen fiktiven Besucher durch die Ausstellung führe, der ist in der Leipziger Hochschulbildstelle gedreht worden.
Und die Restaurierungsarbeiten …?
Das war nicht in dem Maße wie heute möglich. Die Restaurierung der Verbrennungsöfen ist uns damals nicht gelungen. Da hätten wir auch überhaupt kein Geld für gekriegt. Die Ausstellung wurde aus Mitteln des Krankenhauses – aus dem K-und-S-Fonds … Kultur und Soziales bezahlt. Es gab irgendeinen Jahrestag – ich glaube es war der Geburtstag von Olga Benario.

… eine deutsche Kommunistin, die in Bernburg ermordet wurde …

… und da kam eine Delegation des Kreises: Hier da müsst ihr aber auch was darstellen. Uns wurden 15.000 Mark zugesichert. Die haben aber nie bekommen. Das musste das Krankenhaus bezahlen.

Gab es auch Konflikte um die Ausstellung?

Es gab in Bernburg einen rührigen VVN — Verein der Verfolgten des Naziregimes — die haben eine Versammlung organisiert und da wurde ich dann eingeladen und beschimpft. Was ich mir einbilde, mit dieser Ausstellung das Andenken unserer ermordeten Genossen zu schänden, indem ich sie mit Geisteskranken in Verbindung bringe. Das hat mich verzweifeln lassen. Es wurde wieder diese Differenzierung der Toten vorgenommen. Die Differenzierung der Opfer. Genau wie die Sinti und Roma; die Juden … und „wir Antifaschisten“. Sinti und Roma wurden häufig vergessen und hier sind es eben die Geisteskranken, die vergessen wurden. Und dass sich da ein Kontinuum im Totmachen ergeben hat, das hat da keiner begriffen. Und so ein störrischer alter Mann, der mich da so runtergeputzt hat, dass ich mir gesagt habe: „Himmelherrgott was soll‘s? Dann machste die Tür zur Gaskammer zu. Die gehört euch und wir machen den Rest.“ Das ist dann glücklicherweise durch die Wende anders gekommen. Es war ja auch so peinlich für die staatstragenden Institutionen der Stadt und des Kreises, dass wir das wieder ausgegraben haben: „Gottes Willen! Was da passiert sein soll, das könnt ihr doch gar nicht machen. Jetzt lasst ihr schon die Geisteskranken auf dem Marktplatz laufen, jetzt macht nicht auch noch sowas.“

Stefan Gerbing

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