Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Ihr Albtraum. Nervös fragen Sie jetzt, warum. Ich werde es Ihnen erzählen. Aber vorher müssen Sie noch ein paar Dinge wissen. Ich wohne in einer interessanten kleinen Stadt. Seit 12 Jahren bin ich als Juristin selbständig. Ich kann sogar Arbeit annehmen, die keine Ergebnisse bringt, aber meine Neugier befriedigt, meine Vision von Gerechtigkei. Und trotzdem habe ich noch genug Geld.
Sie könnten sagen, dass ich tot besser dran wäre. Als Lokalpolitikerin bekomme ich wunderbaren Klatsch zu hören. Während der Wahlsaison kriege ich meinen Anteil an Krabben-Kräckern und Barbecues. Ich habe an der East Side Community Parade teilgenommen, direkt hinter den Fahnenträgerinnen, neben dem Iman des örtlichen Nation of Islam. Sie könnten sagen, dass ich keine Lebensqualität habe.
Ich habe in Paris Couscous gegessen und Feijoda in New York. Ich habe in die düstere Quelle der Seelen in Chitzen Itza geblickt und über den Hafen von Havanna. Meine Freunde sind aktivistisch und nachdenklich, spirituell und weltlich. Wenn mir etwas keine Freude bereitet, vermeide ich es im Allgemeinen. Bringt mein Leben Terror in Ihre Seele? Das kann gut sein. Denn da ist noch mehr: Ich kann die meisten Körperteile nicht bewegen. Mein Fleisch ist schockierend verwelkt. Jeden Morgen dreht mich jemand im Bett, schiebt mir die Bettpfanne unter und wischt mich sauber, badet mich, zieht mich an, hebt mich in den Rollstuhl.
Oh ja: Behinderung, Abhängigkeit. Ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Werden Sie mich nun voll Grauen anblicken? Bin ich nun ein groteskes Symbol, eine Person, die am Leben erhalten wird, obwohl sie längst tot sein sollte? Ich habe eine dieser neuromuskulären Erkrankungen, über die Jerry Lewis an seinen Spendenmarathons schluchzt (Telethon – alljährlicher Fernsehmarathon, um Geld für die Erforschung der Muskeldystrophie zu sammeln). Sie ist fortschreitend und unheilbar. Ich habe diese „Killerkrankheit“ jetzt seit 43 Jahren. Stellen Sie sich vor, es passiert Ihnen selbst. Was würden Sie tun? Final Exit, das Kochbuch für schnelle und einfache Abgänge kaufen? Der Lobby-Schierling-Gesellschaft für versicherungsfinanzierte Beende-es-schnell-Dienste beitreten?
Ganz klar haben Sie keine Ahnung, wie es ist, in einem Körper wie dem meinen, zu leben. Ich bin da übrigens genauso ahnungslos, was Sie angeht.
Sie denken, dass es erniedrigend ist, sich von jemand Anderem den Hintern abwischen zu lassen. Ich weiß, dass Ihre eine verbreitete Haltung ist. Aber mir erscheint Ihre Abscheu – na ja – neurotisch. Was ist schon dabei? Wenn Sie es nicht selbst tun können, muss es natürlich jemand Anderer tun. Entwürdigte es Ihr Kind, als Sie ihm das seidige Hinterteil schön sauber wischten? Entwürdigte es Sie selbst?
Wenn Sie mir nicht glauben wollen, glauben Sie dem Sonnenkönig, Ludwig XIV. Nobelmänner in Perücken und Silberbrokat, wetteiferten um das Privileg, sich um seine Toilette zu kümmern, obwohl er absolut selbst dazu in der Lage war. Persönliche Assistenz kann Empfindungen bewirken, die nicht im Geringsten unangenehm sind. Wenn Sie Ihre Vorstellung dafür öffnen, werden Sie mich wahrscheinlich um mein Morgenprogramm beneiden.
Aber, sagen Sie, Sie sind ja nicht ich – oder Ludwig XIV. Sie haben üblicherweise keine anderen Menschen in Ihrer Intimsphäre. Und die Details des Lebens sind für Sie immer einfach gewesen. Ihnen fehlt das Organisationstalent, das man für ein Leben wie meines braucht, die logistische Intelligenz. Aber Sie könnten lernen. Sie würden sich arrangieren und erkennen, dass die Dinge sich verändert haben und komplizierter, aber auch interessanter geworden sid. Es braucht etwas Zeit, die Vorurteile Ihres früheren Lebens über Bord zu werfen und die Möglichkeiten zu sehen. Mir hat ein-mal ein Tetraplegiker (Quer-schnittlähmung unterhalb der Brustwirbel) erzählt, was für eine Art von Person er einmal war. „Der Typ hätte nicht so leben wollen wie ich jetzt lebe. Die Leute sagten, er müsse sich anpassen, aber er wollte sterben. So starb er. Ich bin jetzt jemand anderes. Er hatte kein Recht, Entscheidungen für mich zu treffen“. Nun ist der Tetraplegiker auch tot. Aber er hatte eine gute Zeit. Ich bin froh, dass er diese Verwandlung damals durchgemacht hat, als Selbstmord schwierig war und niemand ihm einen Heliumbehälter kaufte.
Aber, sagen Sie, das ist eine Frage der Wahl. Persönliche Rechte. Die Gesellschaft fördert einige Wahlmöglichkeiten, von anderen rät sie ab – oft in Abhängigkeit von gängigen Vorurteilen. Was würden Sie sagen, wenn eine frisch Verwitwete ohne ihren Ehemann nicht weiterleben möchte? Wenn eine arme Person an Hoffungslosigkeit zerbricht? Sagen Sie, na los, ich besorge das Rezept? Ich denke nicht. Sie möchten, dass diese verzweifelten Menschen ihren Verlust überwinden, sich wehren. Sie messen ihrem Kampf großen Wert bei. Sie denken, sie zu unterstützen, ist notwendig. Was ist anders, wenn es sich um jemand von meiner Sorte handelt? Sie antworten, einige Probleme können gelöst, einige Sorgen genommen werden, aber diese Behinderungen und Krankheiten sind unheilbar. Da gibt es keine andere Lösung.
Haben Sie es schon vergessen? Manche von uns leben lange, interessante, unheilbare Leben. Unheilbar zu sein ist gar nicht so schlimm. Ich weiß es. Ich möchte Ihr Hirn von den Dingen säubern, die Sie darüber zu wissen glauben, warum Menschen den Tod wählen. Wenn Sie die Fakten haben, werden Sie sehen, dass es nicht Behinderung ist. Typischerweise sind es nicht mal die Schmerzen, obwohl der fehlende Zugang zu Schmerzmitteln und Palliativpflege ein Teil der Geschichte sein können. Viel öfter ist es die Abhängigkeit von einem Missbraucher. Verlassen werden. Erzählt bekommen, dass man wertlos ist. In einer Institution weggeschlossen sein. Das sind die Dinge, die zu Verzweiflung führen. Diese Notlagen sind nicht unvermeidbar – und wenn sie da sind, nicht unheilbar.
Alles, was man zur Heilung braucht, ist Geld, sinnvoll verwendetes Geld.
Zwei Fälle zur Verdeutlichung: Larry McAffee und Ed Roberts. Zwei Männer, beide vom Hals abwärts gelähmt, künstlich beatmet. Roberts, ein Gründungsvater der Behindertenbewegung, revolutionierte den Dienstleistungsbereich mit unglaublichem Schwung. McAffee, wurde mit Hilfe der ACLU (American Civil Liberties Union) und der Massenmedien zur Ikone des lebensunwerten Lebens und das Reklamebild für das Recht auf den eigenen Tod. Die gleichen Behinderungen, unterschiedliche Leben. Worin lag der Unterschied? Beim Geld – genauer gesagt: bei der Kontrolle über das Geld. McAffee, abhängig von Georgia Medicaid (Medicaid: staatliche Krankenversicherung für die Ärmsten in den USA), verbrachte Jahre abgeschoben zwischen Krankenhaus und Pflegeheim. An beiden Orten war er ein Gefangener; jeder Augenblick seines Tages, jeder Zentimeter seines Körpers überwacht. Roberts errang das Recht, darüber zu bestimmen, wer sich um seinen Körper kümmerte, und wie. Er entschied selbst, was er mit seiner Zeit anfangen wollte und wurde schließlich aus seinem medizinischen Gefängnis befreit. Schließlich bekam er staatliche Unterstützung, um Menschen zu bezahlen, die ihm in seiner eigenen Wohnung halfen. Nun verlor er den Willen zum Sterben. Schade, dass die Medien dem keine Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Wir müssen also keinen Missbrauch ertragen. Wir können unser Leben genießen, wie lang oder kurz es auch sein mag.
Aber, sagen Sie, die Haus-haltslage ist angespannt. Wir können es uns nicht leisten, die Kosten für eine gute Lebensqualität zu tragen. Wir bezahlen jetzt Milliarden, um Menschen in medi-zinischen Gefängnissen einzuschließen.
Das gleiche Geld, um-geleitet in ambulante Dienste, könnte Menschen befreien. In Freiheit streife ich in meinem Rollstuhl alleine durch die Straßen. Ich habe eine bezahlte Assistentin, aber ich brau-che keine Diätköchin oder Freizeittherapeutin oder ähnliches Personal. Anstatt in einen trostlosen Tagesraum geh ich zur Arbeit. Ich verdiene Geld und bezahle Steuern.
Meine Freiheit hängt am seidenen Faden. Eine Familienkrise, ein finanzieller Engpaß, eine Gesundheitskatastrophe und ich könnte mich in einer solchen Einrichtung wiederfinden. Sollte das passieren, hoffe ich, dass Sie sich nicht für mein Recht, mein Leben zu beenden, einsetzen. Ich hoffe, Sie kämpfen für meine Befreiung.
Auch Sie haben gute Chancen, eines Tages selbst jemanden zu benötigen, der Sie umdreht, Ihnen die Bettpfanne bringt, Sie ankleidet und Ihnen in den Rollstuhl hilft. Wenn Sie lang leben, werden Sie damit konfrontiert werden. Das kann pas-sieren, wenn Sie mit 95 eine Krankheit ereilt, oder morgen auf dem Nachhauseweg mit noch 40 Lebensjahren vor sich.
Sie können froh sein, dass wir Ihnen voraus sind. Wir versuchen die Dinge so zu regeln, dass Sie ganz selbstverständlich bekommen werden, was Sie brauchen. Wenn es passiert, fragen sie vielleicht einen von uns danach, wo es langgeht. Wenn Sie soviel Glück haben wie ich hatte, dann wird der Albtraum zum unerwarteten Morgenrot.
Leicht gekürzt
Original: Worth Living
In: Disability Studies Quarterly, Winter 2002, Volume 22, No. 1