Glücklich ist, wer vergisst…

Was ist denn das nun: Glück? Seit der Antike haben sich ganze Kohorten von Philosophen darüber die Köpfe zerbrochen – Hedonisten, Utilitaristen usw. Ist Glück nun ein Maximum an Lust? Oder nur ein Vorgang mit überraschend positivem Ausgang? Oder gar eine Frage der Chemie, ein Überschuss an hirneigenen Opiaten?
Merkwürdigerweise taucht diese Kategorie im Kommunistischen Manifest überhaupt nicht auf. Von einem Gespenst ist die Rede, von der „Expropriation der Grundeigentümer und Kapitalisten“, aber nicht von Glück. Auch Jesus und seine Jünger versprechen kein Glück. Im Neuen Testament taucht das Wort an keiner Stelle auf. Als kenne das Christentum nur Vokabeln wie Gnade, Heil und Frieden. Anders dagegen im Alten Testament: „Ein böses Maul wird kein Glück haben auf Erden.“ (Psalm 140, 12)
Erst die amerikanische Verfassung aus dem Jahre 1787 benennt neben Leben und Freiheit auch das Streben nach Glück („pursuit of happiness“) als unveräußerliches Grundrecht.

Wie auch immer, selig und irgendwie auch glücklich sind die, die arm im Geist sind. Oder wie in der Fledermaus-Operette: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“ – eine Behinderung zum Beispiel. Es soll ja tatsächlich Menschen geben, die im Alltag ihre Handicaps völlig vergessen haben. Nicht zu ändern ist die Geburt eines behinderten Kindes, auch nicht durch Tötung.
Und erst recht nicht zu ändern ist wohl die Aufmerksamkeit, die bestimmten Glücksforschern wieder und wieder in den Medien zuteil wird, allen voran der Philosoph Peter Singer, Autor des Bestsellers „Praktische Ethik“. Bei der schwangeren Maischberger auf der Couch – Titel der Sendung: „Wer hat ein Recht auf Leben?“ – ist es bei ihm schon ein liebgewordener Brauch, den Wert menschlichen und nichtmenschlichen Lebens zu vergleichen resp. gleichzusetzen. Für Singer ergibt sich aus dem Umstand als Mensch geboren worden zu sein, nicht notwendigerweise ein größeres Recht auf Leben als für ein Tier. Die Trennung in menschliches und nichtmenschliches Leben wäre Speziesismus, also eine weitere Form der Diskriminierung. Und wenn schon die Tiere schlecht behandelt werden, dann geht das auch bei Menschen in Ordnung, sagt Singer. Zumindest bei denen, die für ihn auf derselben Stufe wie Tiere stehen. Wer hat eigentlich ein Recht zu leben? Diese Frage treibt Singer um. Lebewesen, die kein Bewusstsein von sich selbst haben, hätten dieses jedenfalls nicht per se. Folglich dürften andere darüber entscheiden, ob sie leben oder sterben.
Sterben kann man auch vor Langeweile. Eine Theorie wird nicht besser, und schon gar nicht interessanter, je öfter sie wiederholt wird. Ein Philosophieprofessor und bekennender Tierethiker aus Down Under schwingt sich zum Anwalt der leidenden Kreatur auf. Tiere und Schwerstbehinderte bewegen sich für Singer moralisch auf einer Stufe. Den Eltern und Vormündern letzterer empfiehlt er zwar nicht den Abdecker, doch stellt in dieser Gedankenwelt das Thema „Euthanasie“ kein Tabu mehr dar. (Und offensichtlich auch nicht für Sandra Maischberger, deren Kind ja bestimmt den Pränataldiagnostik-Check bestanden hat. Hauptsache nichtbehindert!) Wieder und wieder fragt Singer nach dem Leiden. Ein Leiden, das durch seine Thesen auf jeden Fall verlängert wird. Singer verspricht den einen Glück, indem er das vermeintliche Unglück der anderen zu minimieren resp. zu beenden trachtet. Vom Ausmaß des jeweils zu erwartenden Leids hänge ab, ob ein Mensch sterben oder leben soll. Nur: Wer definiert Leid, das ja doch letzten Endes eine subjektive Empfindung ist? Wer kann exakt sagen, wann und bei wem das Glück endet und das Leiden beginnt? Eines aber ist sicher, mit den Worten der Bremer Stadtmusikanten: Etwa Besseres als den Tod finden wir noch allemal.

Immer wieder gern angeführt wird das Beispiel mit dem „offenen Rücken“: Eine Spina bifida ist selbstverständlich eine schwere Beeinträchtigung, je nach Schweregrad der Rückenmarksschädigung. Einige Menschen mit dieser Behinderung sind leicht gehbehindert, andere leben mit einer Querschnittlähmung und sitzen im Rollstuhl. Auch haben viele Betroffene keine Kontrolle über Blase und Darm, oftmals noch einhergehend mit einem Hydrocephalus, besser bekannt als „Wasserkopf“. Verständlich, dass sich diese Menschen nicht auch noch als Gegenstand ethischer Debatten sehen wollen, in deren Mittelpunkt die Frage steht, ob ihr „Leiden“ so schlimm sei, dass es ethisch verwerflich wäre, Babys mit dieser Diagnose weiterleben zu lassen. Laut Singer müsse Eltern jedoch das Recht eingeräumt werden, sich für die Tötung ihres behinderten Babys zu entscheiden, selbstverständlich nach einer völlig „unabhängigen“ Beratung durch einen Arzt… Wenn sie dann noch wollen, können sie ja immer noch ein nichtbehindertes Kind bekommen – und alle sind glücklich.
Singer führt das Beispiel einer australischen Klinik an, die herausfand, dass nach zwei Jahren von 79 nichtbehandelten Säuglingen mit Spina bifida noch fünf lebten. Ja und? Mit der gleichen Begründung könnte man auch die Lebenserwartung von Babys untersuchen, denen die Milch verweigert wird.
Warum Singer bei der Gelegenheit nicht seine schwer demenzkranke Mutter vom Leiden erlöst hat, mochte er nicht verraten. Dabei verfügen Menschen wie sie über kein Bewusstsein von sich selbst. Glücklich ist, wer vergisst. „Sie ist ja meine Mutter!“ beteuerte Singer bei Maischberger. Auch wenn das viele Geld, welches zur Pflege aufgebracht wurde, an anderer Stelle, etwa in der Entwicklungshilfe, vielleicht besser aufgehoben wäre. Woanders sterben Kinder, nur weil Singers Mutter sich das Hirn mit Opiaten zuballern musste. Ach ja: Mit den Nazis habe das alles nichts zu tun. Denn die hätten, so Peter Singer, nicht aus Mitleid und Anteilnahme getötet.
Apropos Mitleid – wenn Mütter ihre Kinder umbringen dürfen, dürfen dann auch Kinder ihre Mütter umbringen? Vorschlag: Die vielleicht berühmteste Schluss-Szene der Filmgeschichte ist die bei „Einer flog übers Kuckucksnest.“ Der Kriminelle McMurphy, gespielt vom unsterblichen Jack Nicholson, wird nach einem Eingriff am offenen Gehirn aus dem OP geschoben und dämmert komatös im Krankenbett vor sich hin. Glücklich ist, wer vergisst. Wir wissen nicht, ob McMurphy ein Bewusstsein von sich selbst hat, auf jeden Fall weckt er nicht den Eindruck. Sein Zimmerkumpel, der alte „Häuptling“, kann sich nun überhaupt nicht vorstellen, dass McMurphy derart dahinvegetieren möchte. Und so fasst die Rothaut einen folgenschweren Entschluss…
Und genauso stellen wir uns Peter Singer vor, mit dem Kissen in beiden Händen, am Bett seiner Mutter: „Was haben sie dir angetan! Nein Mama, ich lass dich hier nicht zurück…“
Mal davon abgesehen, hat der Häuptling im Film wenigstens den Mund gehalten.

Jan Plöger und Karsten Krampitz

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