Mal seh‘n wohin die Reise geht.

„Einen Moment bitte, ich brauche absolute Ruhe“ sagt Reinhard Fißler. Er singt eine kurze Tonfolge ins Mikrofon, dann spricht er etwas hinein. Reinhard Fißler komponiert. Der ehemalige Sänger der Band Stern Combo Meißen arbeitet an einem neuen Song. Arbeitstitel: „Mal seh’n wohin die Reise geht.“ Morgen will er eine erste Version im Studio aufnehmen, in Meißen, zusammen mit alten Musikerkollegen. „Da werd ich wohl noch bis Mitternacht dran arbeiten, ich muss mir meine Kräfte ein bisschen einteilen“, sagt Fißler. Das Licht in seinem kleinen Wohnzimmer in Berlin-Bohnsdorf ist herunter gedimmt. In den Regalen stapeln sich CDs und Platten, große Lautsprecher-Boxen und Gitarren stehen daneben. Die Wände sind mit Postern bedeckt: Eric Clapton, John Lennon, und immer wieder „Reinhard Fißler live in Concert“, „Stern Combo Meißen Open Air“. Dazwischen hängen Bilder von Kindern und Familienmitgliedern, alles hoch angebracht, so dass Reinhard Fißler sie vom seinem Bett aus sehen kann. Gitarren und große Lautsprecherboxen zeigen: Hier wohnt ein Musiker. Reinhard Fißler ist eine der großen Legenden des Ostrocks. Seine größten Erfolge feierte er als Leadsänger und Gitarrist bei der „Stern Combo Meißen“. Die Band spielt Art- Rock, eine Mischung aus Freejazz, Rock und E-Musik. In wechselnden Besetzungen gibt es die Band schon seit 1964, Fißler war von 1972 bis 1982 und von 1996 bis 2000 dabei. Dazwischen arbeitete er in mehreren anderen Bandprojekten mit. Fißler wird geschätzt für seinen ausdrucksstarken Gesangsstil und seine anspruchsvollen Texte. Seit 2004 muss Reinhard Fißler den Großteil seiner Zeit im Liegen verbringen. Fißler hat ALS, das steht für Amyotrophe Lateralsklerose. Eine Nerven- und Muskelkrankheit, die auch den Physiker Stephen Hawking in den Rollstuhl brachte. Vor zehn Jahren spürte er die ersten Symptome, bald darauf konnte er die Gitarre nicht mehr halten. Die Krankheit lähmt nicht nur die Muskeln, auch die Atmung, bei einigen Menschen sogar die Stimme. Ab 2003 trat Fißler weiter im Rollstuhl auf, ab 2004 jedoch ging auch das nicht mehr. Zeitweilig machten seine Stimmbänder nicht mehr mit. Seit einigen Jahren wird Reinhard Fißler dauerbeatmet. Der Schlauch seines Atemgeräts ist durch einen Schnitt in der Luftröhre direkt mit seinem Körper verbunden. Seit dem kann Fißler wieder sprechen und sogar singen. Neben seinem Bett surrt das Atemgerät leise vor sich hin, daneben steht Reinhard Fißlers Rollstuhl, mit dem er immer mal wieder unterwegs ist, das Gerät im Gepäck. Morgen kommt sogar sein Pflegebett mit, hinten in seinen Kleinbus, damit die Fahrt erträglicher wird. Dazu dann noch ein kleiner mobiler Hebe-Kran, mit dem auch PflegerInnen ohne große Körperkräfte ihn in den Rolli heben können. Fißler wird 24 Stunden am Tag von einem Pflegedienst unterstützt. Auch jetzt liegt Fißler in seinem Bett, in der Mitte des Raumes. Schräg hinter ihm ragt der Mikrofonständer hervor, das Mikro selbst hängt nahe bei seinen Mund. Von dort aus hat er alles im Blick – die Bilder und Plakate, seinen Fernseher und, viel wichtiger, den Monitor seines PCs. Der schwebt direkt über seinem Gesicht. Unten an der Monitorhalterung hängt ein Gerät mit zwei Linsen, es sieht ein bisschen aus wie ein Fernglas. Darin sind zwei Kameraobjektive. Sie scannen jede seiner Augenbewegungen und verarbeiten sie zu Computerbefehlen. Per Augenbewegung und Zwinkern kann Fißler auf dem Rechner tippen, Objekte ziehen und wie mit einer Maus anklicken. So kann Fißler nicht nur Texte schreiben und im Internet surfen, sondern auch komponieren. Eine spezielle Software lässt ihn Noten schreiben und Melodien einsingen. Der augengesteuerte Rechner ist für Fißler mittlerweile ein völlig normales Hilfsmittel – obwohl er vor seiner Erkrankung „die Behinderung gehabt hat, nicht mit Computern umgehen zu können“ wie er sagt. „Mit dem PC arbeite ich wie ein Komponist, der ohne eine Band komponiert und vielleicht selbst kein Instrument spielen kann. Ich könnte ja sogar lauter Samples zusammenstellen, die irgendwann mal von Musikern für die Software eingespielt wurden und die mir das Programm in vielen Varianten anbietet. Lieber ist mir natürlich mit echten Musikern im Studio zu sitzen, – von einem Computer kommt nicht so viel zurück, der kann mir nicht sagen, ob ihm das Stück gefällt oder nicht.“ Reinhard Fißler will kreativ sein und bleiben. Das macht für ihn ein normales, sinnerfülltes Leben aus. Ob die Arbeit nun fünf oder zehn Mal so lange dauert wie früher, als er die Noten noch selbst zeichnen und den Text aufschreiben konnte, ist ihm nicht so wichtig. Neben der Musik berät er kulturelle Projekte und setzt sich für sie ein, zum Beispiel für den Kulturpalast in Dresden oder den Berliner Kinderzirkus Cabuwazi. Er nimmt an Studien teil, die ALS erforschen oder Neuro-Techniken erproben, beispielsweise „Brain-Painting“, das über die Umwandlung von Hirnströmen in Computerbefehle arbeitet. „Dass ich kulturell dabei bin, dass ich Kontakte pflege, dass ich Verantwortung tragen kann, dass ich künstlerisch was leisten kann – das ist für mich ein normales Leben. Dass ich selbst noch Impulse geben kann, andere Menschen durch mich inspiriert werden, die Kraft zu behalten. Ich hab schon oft erlebt, dass ich einigen Menschen sogar Kraft geben kann für ihr Leben, obwohl es denen viel besser geht als mir. Und dass wiederum gibt mir Impulse zurück, so dass ich sage: Naja, ich bin doch noch was wert. Ich kann doch noch was Gutes tun“. Fißler sagt, er sei viel aufmerksamer geworden für andere seit seiner Erkrankung. Er habe gelernt zu verlernen – und dabei gewonnen: „Man baut nicht nur ab, man wird nicht nur weniger. Sondern es kommen neue Dinge, bei denen man ganz andere Potentiale entwickeln kann, die man vorher nicht hatte.“ Die Technik um ihn herum rückte dabei nach und nach in den Hintergrund – obwohl sie lebenswichtig für ihn ist. Oder vielleicht gerade deswegen. „Die Geräte nehme ich an, stecke sie in die Westentasche und denke an ganz andere Sachen“. Das ist vor allem bei seinem Atemgerät so. Immerhin hat Fißler noch ein wenig Kraft um auch zeitweise eigenständig atmen zu können – doch ohne Atemgerät kann er nicht mehr sprechen. Ärzte haben es so eingestellt, dass er sich mit der Beatmung wohl fühlt und er sie auch selbst steuern kann. Das Gerät hat seinen Schrecken verloren und ist ihm eher so etwas wie ein Freund geworden, der ihm die Stimme zurückgegeben hat. „Ich kenne auch Geschichten von Menschen die das ablehnen. Die generell in ihren Patientenerklärungen gesagt haben, dass sie keine Unterstützung wollen, sondern lieber auf natürliche Weise den Schlusspunkt ihres Lebens setzen. Alles andere sehen sie als künstlich, unnatürlich. Für mich ist diese Auffassung respektabel. Mir aber hilft es, und zwar nicht so, dass es mir nur das Leben verlängert, dass ich mich hier an einen letzten Strohhalm klammere. Sondern ich habe das Gefühl, dass ich ein recht normales Leben weiterführen kann. Und dass ich, trotz aller Behinderung, öfter mal sagen kann: Mir geht’s gut.“

Rebecca Maskos

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