Der Tag, an dem mein Rollstuhl fort ging

Es war stürmisch. Der Herbst wollte sich nicht länger verstecken. Höhnisch rann der Regen in senkrechten Strömen die Scheiben des ICEs herunter. Meine Laune war dementsprechend finster. Gerade hatte ich einen von diesen miesen Filterkaffees erstanden, mit denen die Bahn ihre Kunden für knapp drei Euro zu demütigen pflegt. Schräg gegenüber war so eine Businesstante schlafend mit dem Kopf auf die Zugtischplatte gesunken. Ich stellte mir die Melange ihres zerlaufenen Make-Ups auf der Laptoptastatur vor. Dabei wurde mir ein bisschen übel. Ich saß wie immer auf ihm. Er wackelte ein bisschen hin und her, das macht er immer im Zug. Ich kannte ihn in und auswendig. Seine Art sich zu bewegen, seine Verlässlichkeit. Wir hatten immer eine symbiotische Beziehung gehabt. Er hat mich immer begleitet. Fast alles im Leben teilten wir mit einander. Immer wenn er mal nicht in meiner Nähe war, wurde ich nervös. Der Schaffner war von der Sorte Bahner, über die man sich nicht freut, aber bei denen man auch gleich weiß, woran man ist. So eine beruhigende Art von empathieloser und humorarmer Geschäftsmäßigkeit, die einem vermittelt, dass man in Deutschland ist. Also zuhause. Der Schaffner fragte: „Ist der schon angemeldet?“ Ich musste einen kurzen Moment innehalten. Wahrscheinlich meinte er ihn, meinen Rollstuhl. Also, oder… vielleicht meinte er mich – also mich und Rolli, wir zwei, das Dreamteam. Ich sagte ja. Der Schaffner sagte: „Mhmhm. Aha. Wo steigt denn der Rollstuhl aus?“ Wieder war ich verwirrt. „Also ich steige in Berlin aus, Hauptbahnhof.“ Der Mann von der Bahn nickte und zog ab. Warum sprach der Mann Rolli direkt an, dachte ich beunruhigt. Rolli war doch schon so sehr Teil von mir, dass ich von uns immer nur als „ich“ sprach. War das falsch? Wollte der Mann von der Bahn mir ein Zeichen geben? Vielleicht mir mitteilen: „Hey, trampel nicht so auf den Gefühlen deines Rollstuhls herum. Vielleicht möchte er auch mal als eigenständiges Subjekt wahrgenommen werden. Denk mal drüber nach, wie du ihn ständig für dich vereinnahmst!“ Das gab mir tatsächlich zu denken. Ich dachte an Rolli und mich. Es stimmte zwar, in unserer Beziehung war ich die Dominante. Ich sprach für uns beide, ich bestimmte die Richtung, in die wir rollten. Ich hatte mich immer für das einzige Subjekt in unserer Beziehung gehalten. Vielleicht hatte ich da einen Riesenfehler gemacht. Andererseits sagte Rolli nie auch nur ein Wort. Mein Deutsche-Bahn-Kaffee wurde über das Nachdenken lau. Ein bisschen gewappnet war ich also schon für das, was dann kam. Wir erreichten den Hauptbahnhof Braunschweig. Was Rolli gerade an Braunschweig interessierte, wird eines jener ewigen Rätsel dieses Vorfalls bleiben. Rolli beugte sich vor, immer weiter, ich konnte mich gerade noch an der Tischkante festhalten. Rolli kippte mich mit aller Gewalt aus ihm heraus. Ich konnte es kaum fassen, dass er auf einmal so autonom handelte. Vielleicht hat das Erlebnis mit dem Schaffner ihm das letzte bisschen Kraft verschafft, das ihm immer gefehlt hatte? Ich rutschte auf den Boden des ICEs, vergoss dabei den Kaffeerest. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Rolli schaute sich nicht einmal nach mir um. Am Bahnhof Braunschweig stieg er einfach aus. Das ist das letzte, was ich von ihm weiß.

Rebecca Maskos

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