„Hast du’s im Kopf empfunden, als dich letzthin einer einen Betrüger nannte? Hat es dir im Magen wehe getan, als der Amtmann kam, dich aus dem Haus zu werfen? Und was war es, das dich getrieben hat, in die Tasche zu fahren, so oft ein Bettelmann seinen zerlumpten Hut hinstreckte? Dein Herz, auch wieder dein Herz, nicht deine Zunge, deine Arme noch deine Beine, sondern dein Herz.“ So macht der Holländer Michel in Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ dem bitterarmen Kohlenmunk-Peter schmackhaft, ihm sein Herz zu geben. Das ist 150 Jahre her. Noch heute tragen wir das Herz auf dem „rechten Fleck“, verlieren oder verschenken es. In der Medizin galt der letzte Herzschlag lange als das Kennzeichen des Todes. Intensiv- und Transplantationsmedizin aber haben Tote mit schlagendem Herzen geschaffen, Hirntote. Diese neuen Toten wirken lebendig. Ihr Kreislauf funktioniert, sie scheiden aus, können sich zum Teil bewegen und schwanger sein. Auch im medizinischen Alltag irritieren die Hirntoten. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation ist hierzulande für die Koordination der Organspende zuständig. In ihrer Broschüre zum Hirntod ist zu lesen: „Es ist nur zu gut verständlich, wenn gerade das Intensivpflegepersonal den plötzlichen Übergang von der Betreuung eines Schwerkranken oder Sterbenden zu der Pflege eines Toten emotional schwer nachvollziehen kann und dieses häufig als Belastung empfinden. Dies liegt auch in der Unanschaulichkeit des Hirntodes begründet.“ Seit das Ad Hoc Commitee der Harvard Universität 1968 die erste Version der Hirntod-Definition veröffentlichte, ist dieser unanschauliche Tod umstritten. Als „pragmatische Umdefinierung des Todes“ zu Gunsten der Transplantationsmedizin kritisierte der Philosoph Hans Jonas sie damals. Christian Barnard musste bei der ersten Herzverpflanzung 1967 noch bei offenem Brustkorb den Herzstillstand abwarten, bevor er das Organ entnehmen durfte. Der jüdische Philosoph plädierte an der ungewissen Grenze zwischen Leben und Tod für eine maximale Todesgewissheit. Die Geschichte verlief anders. Die Harvard-Kriterien wurden vereinfacht. Fast überall werden die Reflexe des Rückenmarkes nicht mehr dem Leben zugerechnet – anders als 1968. Der nachgewiesene Ausfall von Atmung, Hirnstammreflexen und ein tiefes Koma gelten hierzulande als sichere Todeszeichen. In Großbritannien reicht ein nachgewiesener Ausfall des Hirnstamms. Sabine Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité in Berlin erklärt die Konsequenzen: „In Deutschland ist vorgeschrieben, dass das ganze Hirn abgestorben sein muss, obwohl das auch nicht komplett untersucht wird. Aber nach der englischen Vorschrift, kann der, der einen voll erhaltendes Großhirn hat, was ja verantwortlich ist für das Bewusstsein, aber komplett gelähmt ist, beispielsweise nach einem Hirnstamminfarkt, für tot erklärt werden. Und das besonders Schlimme an der Situation ist, dass ein solcher Patient bei vollem Bewusstsein ist, und die Entnahme seiner Organe mitbekommen würde, obwohl er gelähmt ist und nicht mehr sprechen kann.“
*Wissenschaftliche Zweifel*
Ende 2008 hat der Ethikrat des US-amerikanischen Präsidenten einen hundertseitigen Bericht veröffentlicht. Unter den Fachleuten gibt es keine Einigkeit, ob der Hirntod der Tod des Menschen ist. Empirische Untersuchungen zeigen, dass in insgesamt 175 dokumentierten Fällen Hirntote zwischen einer Woche und vierzehn Jahren lebten. In mehr als zehn Fällen wurden Schwangerschaften über Monate bei hirntoten Frauen aufrechterhalten und per Kaiserschnitt gesunde Kinder entbunden. Einig sind sich die Fachleute, dass die bisherige, natur- wissenschaftliche Begründung der Todesbehauptung falsch ist. Denn: Der Tod des gesamten Organismus folgt nicht in kurzer Zeit dem Ausfall des Gehirns. Manche Spezialisten im President’s Council versuchen sich in einer neuen, naturphilosophischen Begründung. Gefragt wird nicht länger, wann der Mensch biologisch tot ist, sondern was das Leben ausmacht. Sie setzen dabei auf die Fähigkeit zu einem aktiven Austausch mit der Umwelt und nennen an erster Stelle die selbständige Atmung. Das heißt konkret: Wer im Koma selbständig atmen kann, gilt als lebendig. Die heutigen Hirntoten können das nicht und würden mit neuer Begründung als „tot“ bezeichnet werden können. Einige Fachleute schlagen einen anderen Ausweg vor: Die Regel, dass nur von Toten lebenswichtige Organe entnommen werden dürfen, müsse fallen. Das meint auch Dieter Birnbacher, Professor für angewandte Ethik an der Universität Düsseldorf. „Wir müssen anerkennen, dass hirntote Menschen eben noch nicht tot sind, dass wir sie aber dennoch als Organspender heranziehen können.“ Die Konsequenzen sind offensichtlich. Ohne die Tote- Spender-Regel kann im Prinzip „frei“ definiert werden, wer getötet werden darf, um Organe zu spenden.“
*Neue Debatten*
Die neuen Zweifel am Hirntod-Konzept sind in den vielen Aufklärungsbroschüren und Aufforderungen, Organe zu spenden und entsprechende Ausweise auszufüllen, nicht zu finden. Die Bundesärztekammer, die eine Begründung des Hirntodes und Kriterien seines Nachweises entworfen hat, äußerte sich bislang nicht zu der fachwissenschaftlichen Debatte. Anders reagierte die American Academy of Neurology (AAN), die in den USA für die Hirntod-Diagnostik zuständig ist. Sie fordert kontrollierte Studien und unter Umständen auch neuere bildgebende Verfahren, um die bisherige Praxis zu überprüfen und die Diagnostik zu verbessern. Sabine Müller von der Berliner Charité schätzt in ihrem Aufsatz „Revival der Hirntod-Debatte“, dass neuere und intensivere Diagnoseverfahren die Zahl der Hirntoten und damit verfügbarer Organe um rund 10% verringern kann. Der Bedarf an Organen, kann nicht rechtfertigen, dass Menschen, die unter Umständen noch leben, Organspender werden, weil an der Diagnostik gespart wird. Auch Maßnahmen zur Verkehrssicherheit, Fortschritte in der Behandlung von Schädelhirn- Traumata, reduzieren die Zahl der Organspender. Der Arzt und Philosoph Stephan Sahm fordert eine grundlegende Debatte über die Kriterien und die Rolle des Hirntodes „und zwar wirklich mit der Offenheit, auch wenn wir zu dem Schluss kommen, wir können sie nicht festlegen. Dann könnte dies dramatische Folgen für die Transplantationsmedizin haben. Aber das schulden wir unserer moralischen Integrität. Zunächst müssen wir sicher sein, dass diejenigen, denen wir die Organe entnehmen, wirklich auch tot sind. Der Kohlenmunk Peter bekommt mit viel List und Tücke sein eigenes, warmes Herz zurück. Wie in Märchen üblich, lebt er bescheiden und glücklich bis ans Ende seiner Tage. Das Herz als Sitz der Seele, des Gefühls und der Todesgewissheit, bleibt ein kultureller Restbestand – in den wissenschaftlichen wie den öffentlichen Gesprächen zum modernen Tod bei schlagendem Herzen.