Wir brauchen Eure Hilfe nicht. Schon gar nicht beim Sterben.

Diane Coleman lebt in einem widersprüchlichen Land. Da gibt es die christlichen Fundamentalisten und radikalen Lebensschützer der „Pro-Life“-Bewegung, die Abtreibungen unter Strafe stellen wollen. Gleichzeitig stellt eine sich als liberal verstehende Öffentlichkeit den Lebenswert Schwerstbehinderter immer wieder in Frage. Nicht nur Wach-Koma-Patientinnen wie Terri Schiavo, deren Lebensende durch Sterbehilfe im Jahr 2004 weltweit für Aufsehen sorgte, auch nichtlebensbedrohlich erkrankte und behinderte Menschen bekamen von US- Gerichten in der Vergangenheit oft die Möglichkeit des assistierten Selbstmordes zugesprochen – ganz selbstverständlich. Als Antwort auf die zunehmende Infragestellung ihres Lebensrechts gründete Diane Coleman zusammen mit anderen behinderten Aktivisten 1996 die Organisation „Not Dead Yet“ – „Noch nicht tot“. Diane Coleman lebt als Juristin in Rochester im Staate New York. Als sie sechs Jahre alt war, sagten die Ärzte ihren Eltern, sie werde mit zwölf sterben.

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Mondkalb: Not Dead Yet ist eine der wenigen Anti- Sterbehilfe-Organisationen, die die Straße als ihre Haupt- Kampf-Arena ansieht. Was hat den Boden für Not Dead Yet bereitet, woher kam die Motivation?

In den 80ern war ich Anwältin in Kalifornien. Ich war damals schon als Aktivistin für die Rechte Behinderter aktiv. Und da begannen behinderte Menschen, sich an mich zu wenden. Ihr Protest wandte sich gegen die ACLU (American Civil Liberties Union), eine Bürgerrechtsorganisation, die sich immer wieder für Menschenrechte einsetzt. Die ACLU hatte damals eine behinderte Frau gerichtlich vertreten,
die unbedingt sterben wollte: Elizabeth Bouvia. Damals war ich noch Mitglied dieser linksliberalen Organisation, und ich war entsetzt, dass die ACLU diesen Fall vertrat. Denn Elizabeth Bouvia war keine Sterbenskranke, die nur ihren absehbaren Tod beschleunigen wollte. Sie war eine 26 Jahre alte Spastikerin, die gerade einige harte Sachen in ihrem Leben durchmachte: Sie hatte eine Fehlgeburt gehabt, ihr Mann hatte sie verlassen, die Behörden hatten ihr ihr Auto weggenommen. Sie wollte sich zu Tode hungern und dabei medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Das hat ein Kalifornisches Gericht ihr sogar zugesprochen. Sie hat das dann zum Glück nicht in Anspruch genommen. Jeder Frau ohne Behinderung hätten Experten eine Therapie nahegelegt. Für Elizabeth Bouvias Sterbewunsch hatten jedoch alle, die Medien und das Gericht, vollstes Verständnis. Ihr Anwalt war ein Sterbehilfeverfechter, Richard Scott. Für ihn war das ein gefundenes Fressen. Nach Bouvias Fall gab es noch viele andere Fälle von Menschen, die viel Pflege brauchten, zum Beispiel Hochquerschnittgelähmte, die in Pflegeheimen versauerten und den Tod als den einzigen Weg raus sahen. Alle waren erfolgreich vor Gericht – und die meisten wurden tatsächlich getötet. Nur einer wollte dann doch weiterleben, Larry McAffee, ihn holten Mitglieder der Behindertenbewegung aus dem Heim raus.

Mondkalb: Wann und wo war die erste Demo von Not Dead Yet?

Das war im Garten von Jack Kevorkian, einem Sterbehilfemediziner. Anfang der 90er wurde er ziemlich bekannt in den USA. Er hat über Jahre angebliche Todkranke zu Tode gespritzt und das öffentlich gemacht. Zwei Drittel seiner Klienten waren allerdings Leute, die nicht im Sterben lagen, obwohl er das immer behauptet hat. Eine große Anzahl seiner Klienten waren Frauen mit MS. Kevorkian
sagte Dinge wie: „Die freiwillige Selbstauschlöschung von Todkranken und Krüppeln kommt dem Gemeinwohl zu Gute“. Mitte der 90er sagten wir Leute in der Behindertenbewegung: Wir werden hier von etwas überrollt. Wir werden abgewertet von den Medizinern. Wir fanden, dass wir mit „Nett-Sein“ und allein mit Aussagen vor Gericht nicht mehr weiterkommen. Wir wollten auf die Straße gehen, zivilen Ungehorsam zeigen, damit die Leute uns endlich zuhörten. Im Juni 1996 war dann eine Bioethikkonferenz in Michigan, dem Staat, in dem Jack Kevorkian lebt. Wir haben viel Lärm auf der Konferenz gemacht, sprachen dort auf dem Podium und besetzten auch den Garten vor dem Haus von Jack Kevorkian. Wir hatten Transparente und Schilder dabei und haben da ein bisschen Straßentheater gemacht. Einer hatte ein Sensenmannkostüm an. Dann haben wir blutroten verflüssigten Wackelpudding ausgekippt. Wir hatten Briefe von behinderten Menschen dabei. Die steckten wir bei ihm in den Briefkasten. Das war unsere erste
Demo, die uns auch viel Medienaufmerksamkeit brachte.

Mondkalb: Wie ging es mit Not Dead Yet weiter? Konnte die Gruppe etwas bewirken?

Seit der Aktion in Michigan haben wir öfter auf Konferenzen demonstriert
und vor Gericht ausgesagt. Wir waren oft in und Princeton, dort, wo der Tötungsethiker Peter Singer an der Universität lehrt. Wir haben viel gegen den Clint-Eastwood-Film „Million Dollar Baby“ protestiert, in dem aktive Sterbehilfe propagiert wird. Ich glaube, wir haben schon etwas bewirkt, aber sicher nicht so
viel, wie wir wollten. Die Leute sind immer noch überrascht über unseren Protest. In den USA kommt der Widerstand gegen Euthanasie oft aus der Ecke der religiösen Rechten. Die protestieren aber aus anderen Gründen als wir. Wir machen Euthanasie zu einem Thema der sozialen Gerechtigkeit und der Medizinkritik. Das ist ungewohnt, gerade auch für die Medien und Linksliberale, die halten Sterbehilfe immer noch für etwas Fortschrittliches. Die wundern
sich dann, dass wir nicht auf der Seite der Sterbehelfer sind. Wir sind ganz bestimmt nicht auf deren Seite, denn in den meisten Fällen wollen Leute, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen, nicht ihre Schmerzen lindern, sondern ihre Scham über Abhängigkeit und über die „Last“, die sie für ihre Angehörigen sein könnten.

Mondkalb: Wieviele Leute nehmen in den USA aktive Sterbehilfe in Anspruch?

Wir haben keine genauen Zahlen, wie viele Leute tatsächlich aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen oder wie vielen das angeboten wird. Ehemalige Patienten berichten uns aber immer wieder, dass auf sie in Krankenhäusern Druck ausgeübt wurde, bestimmte Behandlungen nicht in Anspruch zu nehmen. Eine Form dieses Drucks sind Anweisungen, die behinderte Leute unterschreiben sollen. Sie besagen, dass im Notfall auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet werden soll, damit sie nicht „noch behinderter“ werden – sie heißen „Do Not Resusciate-
Statements“ – „Nicht wiederbeleben“. Manche Leute finden auch so eine Anweisung
in ihren Patientenakten, ohne dass sie sie je unterschrieben hätten. Es kommt vor, dass das Papier einfach von öffentlichen Stellen über die Köpfe der Patienten hinweg ausgestellt wird. Das ist zum Beispiel in einem Heim für geistig behinderte
Menschen in Tennessee entdeckt worden, deren 4000 Bewohner alle eine solche Anweisung in ihren Krankenakte hatten. Noch ist gesetzlich nicht geregelt, ob die Anweisung vom Patienten selbst unterschrieben sein muss, um rechtsgültig zu sein.

Mondkalb: Bei uns wird zur Zeit viel über Patientenverfügungen diskutiert. Kann so eine Verfügung in den USA mehr Autonomie über das Lebensende schaffen?

Ja, auch hier haben viele Leute Patientenverfügungen. Doch mittlerweile werden sie durch Regelungen in vielen US-Staaten eingeschränkt: Wenn ein Arzt meint, eine Behandlung sei nicht nötig, die Lebensqualität des Patienten sei sowieso zu schlecht, zum Beispiel, weil er dauerhafte Atemprobleme hat, dann kann sich der Arzt über die Patientenverfügung hinwegsetzen. Die meisten Staaten in den USA haben diese Regelung inzwischen in ihre Gesetze aufgenommen. Ich selbst brauche mittlerweile nachts ein Atemgerät. Das wird auch als Zeichen für „mangelnde Lebensqualität“ gesehen. Ich hoffe nicht, dass das mal als Argument benutzt wird, mir medizinische Hilfe vorzuenthalten. Ich kann mit meinem Atemgerät sehr gut leben.

Mondkalb: Gibt es Kritiker, die Not Dead Yet für zu pauschal halten? Die finden, dass man doch unterscheiden müsse zwischen den Todkranken und jenen, denen ihr Sterbewunsch eingeredet wird?

Wir wenden uns nicht grundsätzlich gegen Sterbehilfe. Aber in erster Linie müssen wir die Palliativmedizin weiter ausbauen. Das wird aber in unseren Gesetzen bereits sichergestellt. Deswegen finden wir nicht, dass wir ein neues Gesetz zur aktiven Sterbehilfe brauchen. Diejenigen, die hauptsächlich vor dem Gepflegtwerden Angst haben, die nicht wollen, dass sie jemand auf die Toilette setzt, denen sagen wir nur: „Eure Angst ist kein Grund, allgemeine Gesetze zu ändern.“ Wenn diese Menschen ihr Leben unbedingt vorzeitig beenden wollen, sind sie dafür selbst verantwortlich. Wenn das Gesundheitssystem erstmal geändert ist, wird es eine Erwartungshaltung geben, dass andere es ihnen gleich tun. Es könnte dann eine Pflicht geben, zu sterben.

Blog von Not Dead Yet:
http://notdeadyetnewscommentary.blogspot.com

 

Interview: Rebecca Maskos

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