„Es sollte auch Spaß machen.“

Birgit Rothenberg, promovierte Diplom-Pädagogin, Beraterin für behinderte Studierende an der Uni Dortmund und Lehrende im Bereich Disability Studies, Vorstandsmitglied des Dortmunder Vereins „MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V.“ sowie Moderatorin des Dortmunder behindertenpolitischen „Aktionskreises“ erzählt von den Anfängen der Behindertenbewegung in Westdeutschland.

Du bist eine Mitbegründerin der Behindertenbewegung, seit 1977 bist du dabei. Wie kam es dazu?

Eigentlich ganz unpolitisch: Ich war Studentin und hatte gehört, dass ein paar Leute eine WG gründen wollten, in Dortmund. Ich wollte in die Stadt ziehen und nicht alleine wohnen. In die WG bin ich zwar nie eingezogen, aber über diesen Kontakt bin ich zu einer Gruppe von Studierenden und gleichaltrigen, nichtstudierenden behinderten Frauen und Männern gekommen. Und parallel dazu hat sich eine Interessengemeinschaft von behinderten und chronisch kranken Studierenden gegründet, da war ich auch dabei.

Hast du dich selbst als behindert verstanden?

Ich selbst bin chronisch krank, aber das galt damals bei Niemandem als Behinderung. Damals war meine Diagnose noch nicht so alt und dann hofft man erstmal, alles geht wieder weg. Ich habe eine Autoimmunerkrankung. So 1980/81, damals ging es mir körperlich oft sehr schlecht, war mir klar, dass nichts mehr weggeht, dass es zu mir gehört. Ich erinnere mich, dass ich einmal entscheiden musste, ob ich jetzt behindert bin oder nicht, denn die Krüppelzeitung gab es zu verschiedenen Tarifen – für „Behinderte“ und „Nichtbehinderte“. Ich hatte ein Gespräch mit Udo Sierck, der hat bei der Krüppelzeitung mitgearbeitet. Und der sagte: „Ach, das musst du entscheiden. Das kannst nur du wissen, wozu du gehörst.“ Das fand ich gut. Weil es sonst oft nicht als Behinderung gezählt hat. Für die Interessengemeinschaft waren Leute wie ich, die keine sichtbare Behinderung hatten, ganz klar nichtbehindert. Seit langem sage ich selbst, dass ich behindert bin.

Dann hast du also persönlich weniger Kämpfe mit Barrieren gehabt, als zum Beispiel Rollstuhlfahrer_innen, aber du hattest sicher ein Bewusstsein dafür. Wie war das denn für Leute mit Behinderungen Ende der Siebziger, wenn sie raus auf die Straße gegangen sind, worauf mussten die sich da einstellen?

Die sichtbaren Barrieren waren immens. Du konntest nicht auf‘s Klo, es gab keine abgeflachten Bordsteine, es gab so gut wie keine Behindertenparkplätze, keinen einzigen Bus, den man im Rolli benutzen konnte. Du kamst nicht in die U-Bahn. Die Leute starrten einen an, vor allem wenn man eine sichtbare Behinderung hatte. Ich war oft mit Gusti unterwegs, der sich im Elektrorollstuhl bewegte. Der wurde andauernd angestarrt und ich dann auch. Selbst behinderte Erwachsene waren selten in der Öffentlichkeit, weil sie sich nicht wirklich in der Stadt bewegen konnten.

Wie sahen eure ersten Proteste aus, was waren die Auslöser?

Wir haben ab Ende der Siebziger angefangen zu protestieren, vor allem gegen die Barrieren in Bussen und Bahnen: z. B. bei der Einweihung der neuen U-Bahn in Dortmund, auch mit großen Demos und Blockaden. Da haben wir die Treppen dicht gemacht, wir haben uns davor gestellt, und haben verhindert, dass die Leute rein- oder rausgehen können. Wir haben erklärt, dass wir für eine kurze Zeit mal Gleichberechtigung herstellen möchten und mal zeigen, wie das so ist, wenn man nicht reinkommt. Wir haben auch Busse blockiert, die ja alle nicht barrierefrei waren. Das war ein bisschen schwieriger, da haben wir meistens ein Transparent mit unseren Forderungen vorne über die Windschutzscheibe gehängt und rechts und links an den Spiegeln festgemacht. Und später in den 80ern gab es dann auch mehr organisierte Demonstrationen, zum Beispiel unter dem Motto „Bus und Bahn für alle“ — denn das war eigentlich das Augenscheinlichste, dass es keine Mobilität gab für viele Leute, dieses Eingesperrtsein. Dass wir dabei auch mal eine Kreuzung besetzt haben, und mit so vielen Leuten durch die Stadt gezogen sind, das war völlig ungewöhnlich für die Leute, das war ein Ereignis.

Was war das für eine Stimmung Anfang der 80er? Wie ist aus solchen Aktionen eine Bewegung geworden?

Wir hatten verschiedene Adressen von Gruppen von Leuten mit und ohne Behinderungen, z. B. Cebeefs (Club Behinderter und ihrer Freunde), oder Jugendgruppen von Sozialverbänden. Dann hatten wir Adressen von Leuten, die auf der Demo gegen das Frankfurter Urteil waren. Anfang 1980 haben wir über diesen Verteiler eingeladen zu einem gemeinsamen bundesweiten Treffen, wo wir die Proteste geplant haben. Denn wir hatten den Eindruck, es gibt noch viele andere, die teilen dasselbe Grundgefühl. Wir wollten uns wehren, wogegen, darüber waren wir uns meistens einig, und auch darüber, dass der Protest auch Spaß machen sollte, mit selbst gedichteten Liedern und so weiter. Es gab auch viel Solidarität, es war so ein „Uns-Gefühl“ — so dass auch blinde Menschen oder ich als chronisch Kranke zum Beispiel bei Aktionen gegen rollstuhlunzugängliche Busse dabei waren. Das war „gegen uns“.

Die erste Aktion war ja die Störung der Eröffnungsveranstaltung des „Jahres der Behinderten“ in Dortmund. Wie lief das ab?

Es gab zwei Schwerpunkte. Der eine war, dass wir gemeinsam rein gegangen sind in die Halle. Es gab einen sogenannten „Krüppel- und Idiotenzug“. Das war eine lange Zweierreihe mit Transparenten, zum Beispiel mit den „Zehn Geboten für Behinderte“ so etwas wie „Du sollst im Heim leben. Vom Kindergarten bis zum Sonderfriedhof“. Die Veranstalter wollten uns erst nicht in die Halle reinlassen, aber dadurch, dass Presse und Fernsehen da waren haben sie uns dann doch rein gelassen. Wir haben immer „Halle für alle“ gerufen – das war sogar der offizielle Slogan der Dortmunder Westfalenhalle damals. Dann sind einige von uns auf die Bühne rauf, das waren alles Leute mit sichtbaren Behinderungen, darauf hatten wir uns geeinigt. Die mussten dann da draufgehoben werden, wenn sie im Rollstuhl waren. Die haben sich untereinander fest gekettet. Die anderen, wie ich zum Beispiel, haben Flugblätter verteilt.

Wie hast du die Atmosphäre im Saal erlebt?

Es war voll, es war laut und es gab viel Aufruhr. Viele von uns waren ja auch im Saal und haben geklatscht oder was skandiert. Einige Leute im Publikum verstanden überhaupt nicht worum es geht, die wollten lieber wieder die nächste Band hören. Ich fand uns damals aber sehr überzeugend, auch unsere Redebeiträge. Die meisten im Saal fanden es auch gut – es war spannend, da passierte mal was völlig anderes. Die anderen Reden waren ja nur … naja, Gesülze. Wir waren euphorisch, aber auch aufgeregt, wir wussten ja nicht ob was passiert. Es ist aber nichts passiert. Die von der Westfalenhalle haben Sanitäter geholt, wahrscheinlich vom Roten Kreuz, aber die hatten ja gar keine Berechtigung, uns da von der Bühne zu heben. Und die Polizei haben sie sich nicht getraut zu rufen. Die Organisatoren konnten mit unserem Protest überhaupt nicht umgehen, die sind gar nicht auf die Idee gekommen, dass so etwas passiert. Irgendwann haben wir die Aktion dann beendet.

Wie war es am Ende des Jahres beim Krüppeltribunal – wie habt Ihr das organisiert?

Wir hatten 400 Teilnehmer_innen, wir mussten die Unterbringung organisieren, die Mobilität. Das Schwierigste war, einen Raum zu kriegen. Denn nach unserer Bühnenbesetzung waren alle unsere früheren „Freundschaften“ zu Organisationen aufgekündigt. Wir hatten davor mit Einrichtungen wie Berufsbildungswerken zusammengearbeitet, wo bei unseren Treffen die Rollifahrer_innen von auswärts immer übernachten können. Die haben uns dann für das Krüppeltribunal abgesagt. Es gab auch Einrichtungen, wo Mitarbeiter_innen Abmahnungen gekriegt haben, die mit uns solidarisch waren. Wir wollten Plakatwände mieten, auf denen wir das Krüppeltribunal ankündigen wollten – die haben wir nicht bekommen. Wir sind dann letztlich in einer Dortmunder Kirchengemeinde gelandet. Wir haben dann alles privat organisiert – VW-Busse, Leute die Rollis in den Bus reinheben konnten, Übernachtungsmöglichkeiten.

Wie war das Medienecho auf das Krüppeltribunal?

Es gab Artikel in großen Zeitungen und auch Fernsehberichte. Einige Journalist_innen haben das sehr gut verstanden und gesagt: Hier ist ein qualifizierter Protest von Leuten, die sagen, wir wollen nicht mehr abgeschoben werden, wir wollen ernst genommen werden. Aber es gab auch Berichte mit dem Tenor „Hier ist das versammelte Elend. Verkrüppelte, Verzogene, Lahme und so weiter“. Es gab eine Seite die sagte „Diese Krakeeler, die lösen das Problem bestimmt nicht“ oder „Die werden nur von den Linksradikalen benutzt“. Aber inhaltlich bestritten wurde unsere Kritik nicht, zum Beispiel unsere Bestandsaufnahme in den Heimen. Von fachlicher Seite aber wurde gar nicht erst reagiert, die haben unseren Protest eher ignoriert.

Was denkst du hat die Krüppelbewegung bewirkt?

Zu den Themen vom Krüppeltribunal haben ja in den Städten einzelne Gruppen weitergearbeitet, haben Dienste aufgebaut. Es gab viele Chancen, Protest und Aufbruch zum Ausdruck zu bringen, zu erleben: „Ich bin nicht alleine, ganz vielen geht es so.“ Gut waren Momente, wo viele sich beteiligen konnten. Auch die, die das vielleicht alleine nicht gekonnt hätten oder die das nicht hätten verbalisieren können. Die konnten einfach mit anderen zusammen dabei sein. Das waren auch sehr schwer beeinträchtigte Menschen oder Leute, die keine formale Schulbildung hatten.

Solchen Protest wie damals, mit so vielen Aktionen, gibt es ja kaum noch. Wo sind denn die ganzen Aktivist_innen hin, warum gibt es so eine Bewegung nicht mehr, die den Protest in die Öffentlichkeit trägt?

Naja, es braucht einen Anlass. Als der Bioethiker Peter Singer in den Neunzigern hier in Deutschland unterwegs war, und seine Ideen vom mangelnden Lebenswert von behinderten Menschen verbreitet hat, da ging es innerhalb von Tagen. Das ging quer durch die Bundesrepublik zwischen denselben Gruppierungen von damals, dass wir einen Protest dagegen aufgebaut haben. Da waren auch noch andere dabei, zum Beispiel das Genarchiv oder Eltern behinderter Kindern, aber eben auch viele Aktivist_innen aus den Achtzigern. Da waren viele, die sich jahrelang nicht gesehen hatten, und das ging trotzdem sehr schnell.

Was wären Felder, wo Protest heute notwendig wäre?

Diese sichtbaren, „in-Beton-gegossenen“ Diskriminierungen, die sind heute nicht mehr so deutlich wie damals. Im Moment ist es auf jeden Fall diese Ausgrenzung von Gruppierungen bei der Schule. Und bei diesen so genannten Ambulantisierungen, wo im Endeffekt nur nach wirtschaftlichen Aspekten geguckt wird, wer aus den Heimen ausziehen darf. Diejenigen, die fit sind, dürfen ambulant wohnen, die schwerer Behinderten bleiben in den Einrichtungen.

Rebecca Maskos

Comments are closed.