Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung

Weil sie den Anblick einer Gruppe behinderter Menschen an ihrem Urlaubsort hatte ertragen müssen, hatte eine Frau gegen ihren Reiseveranstalter geklagt. Mit Erfolg: Das Frankfurter Landgericht sprach ihr im Februar 1980 Schadensersatz zu. Gemeinsam mit den Behinderten den Speisesaal benutzen zu müssen sei unzumutbar, heißt es in der Urteilsbegründung: „Es ist nicht zu verkennen, dass eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann.“

Das Urteil sorgte für Empörung, nicht nur bei behinderten Menschen. Am 8. Mai gingen in Frankfurt 5000 Menschen dagegen auf die Straße.
Die Proteste gegen das „Frankfurter Urteil“ gelten als Startschuss der Behindertenbewegung in Deutschland. Dass behinderte Menschen sich aktiv wehren, laut und wütend gegen Diskriminierung vorgehen, das hatte man bis dahin noch nicht gesehen. Das Urteil wurde durch die Demonstration nicht zurückgenommen. Dennoch gab sie der entstehenden Bewegung das nötige Selbstbewusstsein. Und zum ersten Mal in der Geschichte der BRD schaffte es der Widerstand behinderter Menschen in die „Tagesschau“.
Von gemeinsamer Organisierung gegen Diskriminierung oder sogar Widerstand waren behinderte Menschen noch kurz Zeit zuvor weit entfernt gewesen. In der Weimarer Zeit hatte es zwar erste Gruppen der Behindertenselbsthilfe gegeben, doch die waren weitgehend in den Wohlfahrtsorganisationen der Nationalsozialisten aufgegangen. Neue Versuche von behinderten Menschen, selbst Behindertenpolitik zu machen, sollte es erst Jahrzehnte später wieder gegeben. Vorher hatten die Nazis in den 30er und 40er Jahren ein Mordprogramm aufgelegt, dem insgesamt rund 300.000 Menschen mit Behinderungen, chronischen und psychischen Krankheiten zum Opfer fielen. Hinzu kamen rund 400.000 Opfer von Zwangssterilisierungen.
Nach dem Krieg gab es zunächst hauptsächlich Hilfsorganisationen für Kriegsveteranen. In den 50er Jahren gründeten sich erste Elternorganisationen, zum Beispiel „Die Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“. Die Vereine wurden oft gemeinsam mit Mediziner_innen ins Leben gerufen. Ziel war, die Familien zu entlasten und die Kinder zu fördern – an Integration oder gar Inklusion wurde dabei aber nicht gedacht: Erste Sonderkindergärten, Sonderschulen und „beschützende Werkstätten für Behinderte“ entstanden, auch auf Betreiben der Elternvereine.
Doch die Kinder wurden älter, und die Bundesrepublik Ende der 60er von außerparlamentarischem Protest erschüttert. Student_innen – und Frauenbewegung brachten neue Ideen: Emanzipation, Selbstermächtigung, Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Das ging auch an behinderten Menschen nicht spurlos vorbei. Junge Leute mit Behinderung suchten sich Gruppen außerhalb der von Eltern und Professionellen beherrschten Vereine. Sie gründeten die „Clubs 68“ und später die „Clubs Behinderter und ihrer Freunde“ (Cebeefs), zusammen mit engagierten nichtbehinderten Aktivist_innen. Die Clubs wurden zunehmend politischer und brachten sich kommunalpoltitsch ein. Hier gab es auch viel zu tun: Busse und Bahnen waren nicht zugänglich, abgeflachte Bordsteine gab es kaum, geschweige denn rollstuhlgerechte Wohnungen. Die meisten behinderten Menschen, die sich im Alltag nicht selbst versorgen, waschen oder anziehen konnten, lebten bei ihren Familien oder in Heimen. Hilfsmittel bewilligt zu bekommen war aufwendig. Fachleute berieten darüber, ob man behinderten Menschen erlauben dürfe, Auto zu fahren, zu heiraten oder Kinder zu bekommen.
Immer mehr behinderten Menschen erkannten, dass nicht sie oder ihre Körper für ihre Ausgrenzung verantwortlich waren, sondern eine ausgrenzende Gesellschaft. Und gegen die wollten sie sich wehren. Praktisch gemacht wurde das zum Beispiel Mitte der 70er Jahre in Kursen der Frankfurter Volkshochschule. Der Aktivist Gusti Steiner organisierte zusammen mit dem nichtbehinderten Journalisten Ernst Klee provokante Aktionen: Straßenbahnen wurden blockiert, illegale Rampen gebaut und „Goldene Krücken“ für „die größten Nieten der Behindertenarbeit“ verliehen.
Weiter nördlich in Hamburg und Bremen war man indes noch radikaler und schloss die Nichtbehinderten gleich ganz aus der politischen Arbeit aus. In der „Bremer Krüppelgruppe“, gegründet von Franz Christoph und Horst Frehe, durften nur behinderte Menschen mitarbeiten. Der Begriff „Krüppel“ brachte für sie besser das „Unterdrückungsverhältnis“ zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen auf den Punkt. Nichtbehinderte sollten ihre Normalitätsvorstellungen hinterfragen, bevor sie wieder mit den Krüppeln zusammenarbeiten könnten, so die Bremer Krüppelgruppe. Bis dahin arbeiteten die Krüppel „unter sich“, zum Beispiel in der bundesweiten „Krüppelzeitung“ (der Vorläufer der behindertenpolitischen Zeitschrift „Die Randschau“). Im Februar 1981 ketteten sich Mitglieder der Bremer Krüppelgruppe im Foyer des Bremer Rathauses an und traten in den Hungerstreik. So erreichten sie, dass Kürzungen bei einem Fahrdienst für behinderte Menschen zurückgenommen wurden.
Auch wenn die Radikalität der Krüppelgruppen nicht allen Aktivist_innen der Behindertenbewegung gefiel – gegen das Frankfurter Urteil demonstrierten sie zusammen und planten noch mehr gemeinsame Aktionen. Denn 1981 hatten die Vereinten Nationen das „Jahr der Behinderten“ ausgerufen. Auch Deutschland beteiligte sich, Wohlfahrtsverbände und Politiker_innen kündigten für das Jahr Veranstaltungen zur Fürsorge für Behinderte an. Die Krüppelgruppen und Behinderteninitiativen ahnten nichts Gutes: Die „Wohltäter“ würden sich auf den offiziellen Veranstaltungen selbst beweihräuchern für ihre angebliche „Integration Behinderter“, während sie weiterhin Gelder in Werkstätten, Sonderschulen und Sonderfahrdienste steckten. Statt sich an den Veranstaltungen zu beteiligen tauften sie das „Jahr der Behinderten“ um in das „Jahr der Behinderer“ und nutzten es als Plattform für ihre Proteste. Ihr Motto: „Jedem Krüppel seinen Knüppel“.
Gleich bei der Eröffnungsveranstaltung am 24. Januar 1981 zog ein „Krüppel- und Idiotenzug“ durch die Dortmunder Westfalenhalle. Aus ganz Deutschland waren Aktivist_innen gekommen, um gemeinsam die Bühne zu besetzen. Sie forderten: „Keine Reden. Keine Aussonderung. Keine Menschenrechtsverletzungen“. Bundespräsident Karl Carstens musste seine Rede in einem Nebenraum halten. Dort war dann auch nicht von Rechten und Selbstbestimmung die Rede, sondern von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe „für die Behinderten“.
Hatte schon die Bühnenbesetzung für viel Irritationen in der Öffentlichkeit gesorgt, tat es eine weitere Aktion im Juni 1981 noch mehr. Bei der Eröffnung der Reha-Messe in Düsseldorf stürzte sich Franz Christoph auf Karl Carstens mit den Worten „Hast Du aus Dortmund nichts gelernt?“ Dabei schlug er ihm mit seiner Krücke zweimal gegen das Knie. Neben den erneuten „Wohltäter“- Reden auf dieser Veranstaltung war für Christoph besonders das Nicht-Ernstnehmen seines Protests ein Skandal: Während die Antifaschistin Beate Klarsfeld seinerzeit für eine Attacke auf Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ins Gefängnis kamen, wurde auf Christoph lediglich beruhigend eingeredet. Statt ins Gefängnis zu kommen bekam er ein schlichtes Hausverbot.
Den Abschluss des „Jahrs der Behinderer“ sollte ein großes bundesweites Treffen machen. Beim „Krüppeltribunal“ im Dezember 1981 wurden Menschenrechtsverletzungen in der Behindertenfürsorge angeklagt. Im Saal der Dortmunder Schalomgemeinde trafen sich rund 400 behinderte und nichtbehinderte Menschen. Angelehnt war das Krüppetribunal an die von Philosoph Bertrand Russel initiierten Menschenrechtstribunale. Beim ersten Russel-Tribunal 1966 wurden Menschenrechtsverletzungen des Vietnam Kriegs öffentlich gemacht. Das Prinzip der Tribunale: Die Unterdrückten klagen ihre Unterdrücker selbst an. Doch auch in der Vorbereitung des Krüppeltribunals kam es zum Konflikt zwischen behinderten und nichtbehinderten Aktiven: Die Krüppelgruppen beteiligten sich wegen der Teilnahme der Nichtbehinderten nicht an den Vorbereitungen.
Dennoch waren sie bei der Veranstaltung dabei und teilten die Forderungen: Ein Stop der Aussonderung durch Heime, Werkstätten, Rehabilitationszentren und Psychiatrien, gleicher Zugang zu Gebäuden, Bussen und Bahnen und mehr Gelder für Hilfsmittel. Skandale der Pharmaindustrie sollten aufgedeckt werden. Erstmals wurde auch die Situation behinderter Frauen thematisiert, – dass sie besonders von sexualisierter Gewalt betroffen sind, war bis dahin kaum bekannt.
Zu den Themen des Krüppeltribunals hatten verschiedene Gruppen in den Regionen recherchiert. Tagebuchzeichnungen aus Heimen wurden auf der Bühne verlesen, Rollenspiele mit Werkstattleiter_innen und Beschäftigten, der Kampf gegen Behördenwillkür und eine nicht barrierefreie Umwelt in Szene gesetzt. Opfer von Gewalt und Missbrauch in Psychiatrien berichteten von ihren Erfahrungen – während der Nazizeit und danach, wo laut einem Teilnehmer „alles noch viel schlimmer wurde“. Im Saal herrschte Aufbruchstimmung. Endlich wurden Ausgrenzung und Unterdrückung als Menschenrechtsverletzungen benannt – viele Teilnehmer_innen fühlten sich erstmals ernst genommen.
Die Aufbruchstimmung blieb, und die Themen des Krüppeltribunals boten das Programm für die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung der folgenden Jahrzehnte. Ehemalige Heimbewohner_innen gründeten Assistenzdienste, um in ihren eigenen Wohnungen unabhängig von „fürsorgender Pflege“ zu leben. Aktivist_innen von einst gründeten Beratungszentren, um behinderte Menschen bei Behördenanträgen, bei Willkür von Krankenkassen oder im Streit mit Sonderinstitutionen zu unterstützen. Von der Behindertenbewegung in den USA inspiriert entwarfen behinderte Jurist_innen Gleichstellungsgesetze, die die behinderten Menschen mehr Zugang verschaffen sollen. Mittlerweile ist aus der Behindertenbewegung ein Netzwerk von Lobbypolitiker_innen entstanden, das viel erreicht, aber nur noch selten provoziert oder gar schockiert.
Als Bürgerrechtsbewegung hat die Behindertenbewegung vieles erreicht – gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten und auch mehr sozialen Druck. Die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderung ist ungebrochen hoch, Behinderung ist und bleibt ein Armutsrisiko. Vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten sind in Werkstätten einem zunehmenden Stress ausgesetzt, Firmenaufträge abzuarbeiten, bei einem Dumpinglohn von im Schnitt 150 Euro im Monat. Aus den einstigen Fürsorge- und Almosenempfänger_innen sind Steuerzahler_innen und Leistungsträger_innen geworden – und wenn sie Mist bauen, kommen auch sie nun in den Knast.

Rebecca Maskos

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