Was nicht passt, wird passend gemacht

Neulich bei Karstadt. Der dritte Stock ist schon eine Herausforderung. Der Knopf mit der Drei drauf ist verdammt weit oben. Also auf den Rolli stellen, den Arm weit ausstrecken. Beim Aussteigen kommt mir ein Kind entgegen, verwirrte Blicke. Fragen werden gestellt: Warum ist die Frau so klein? Ist sie noch Kind oder schon erwachsen?

Die Durchschnittsgröße von Frauen liegt in Deutschland bei 1,65 Metern. Da bin ich mit meinen knapp 100 cm eindeutig drunter. Und mit 32 Jahren rechne ich mit keinem mirakulösem Wachstumsschub mehr. Wer als Frau unter 1,50 Metern groß ist, gilt in Deutschland als kleinwüchsig (bei Männern liegt die Grenze bei 1, 65 Metern). Selbst ohne Rollstuhl ist man, wenn man weit unter dieser Marke liegt, behindert. Und das nur, weil die Welt eben auf 1,70 eingerichtet ist. Türklinken sind zu hoch, Kuchentheken auch, und Auto-Lenkräder, Bürotische und Kinosessel sind eben mit einem Meter Körpergröße schlecht zu benutzen. Viele Kleinwüchsige träumen deshalb von ein paar Zentimetern mehr. Auch, um endlich dazuzugehören. Denn erst mit der Normalgröße steigt die Chance auf Partner und guten Job, lässt Blicke und Fragen weniger werden. Und für diese Normalität lassen manche Kleinwüchsige einiges mit sich anstellen.

Wachsen um jeden Preis
Zum Beispiel Hormontherapie. Mit hoch dosierten Wachstumshormonen bringen es einige Kleinwüchsige ganz schön weit nach oben. Diese Therapie, bei der abends hoch dosierte Hormone in den Oberschenkel gespritzt werden, ist aber nur bei Kindern im Wachstumsalter wirksam.
Die andere, etwas brutalere Methode: die operative Arm- und Beinverlängerung. Dabei werden unter Narkose die Knochen
gebrochen und ein so genannter Fixateur an den Bruchstellen befestigt. Jeden Tag soll nun der Patient an einer außen liegenden Schraube drehen und so das Bein millimeterweise in die Länge ziehen. Die Lücke zwischen den Bruchstellen füllt sich mit neuem Knochenmaterial, ganz allmählich. Eine schmerzhafte, langwierige Prozedur, die sich über Monate hinziehen kann. Und die dabei durch ein hohes Infektionsrisiko gar nicht ungefährlich ist.

Ashley darf nicht wachsen
Für ein Kind in den USA sieht die Sache mit dem Wachsen ganz anders aus. Ashley ist klein und das soll auch so bleiben. Sie ist neun Jahre alt, lebt in Seattle an der Nordwestküste der USA und gilt als schwer geistig behindert. Im Alter von sechs Jahren schon war Ashley für ihr Alter verhältnismäßig groß, und sie wuchs immer weiter. Das Wachsen sollte aufhören, fanden Ashleys Eltern. Vermutlich wäre Ashley ein sehr großer Mensch geworden, genau wie ihre Eltern, doch das haben sie verhindert. Ashley soll für immer den Körper eines Kindes behalten. Denn Ärzte und Eltern sagen, Ashley habe auch den Geist eines Kindes, sie sei höchstens auf dem Entwicklungsstand eines Säuglings. Alle sind davon überzeugt, dass sich daran auch nichts ändern wird.

Ashley mag es, in ihrem Bett zu liegen oder auf einem großen Kissen. „Pillow Angel“ nennen ihre gläubigen Eltern sie deswegen – Kissen-Engel. Ashley kann nicht alleine sitzen und sich nicht fortbewegen, sie wird künstlich ernährt. Ihre Eltern und die beiden Großmütter betreuen sie rund um die Uhr. Sie sagen, dass Ashley es genießt, im Arm gehalten und herumgetragen zu werden. Sie sei überall mit dabei – im Auto, im Garten, auf dem Sofa. Und mit ihrer Größe passe Ashley gut in ihren Zwillingskinderwagen hinein. Die Eltern sagen, dass Ashley nicht viel mitbekomme, aber das dass Zusammensein mit der Familie und die Stimmen ihrer Eltern und Geschwister sie beruhigt und zufrieden mache.

Östrogen in hohen Dosen
Schon mit 6 Jahren wuchsen Ashley erste Schamhaare und Ansätze von Brüsten. Die Familie befürchtete, dass Ashley, wie viele Frauen in ihrer Familie sehr große Brüste bekommen würde, die sie stören könnten. Sorgen machte ihnen auch die in ein paar Jahren anstehende Menstruation: die Krämpfe könnten zu schmerzhaft für sie sein, und die Pflege würde durch die Blutung schwieriger werden. Das Hauptproblem von Ashleys Eltern aber war ihr überdurchschnittlich schnelles Wachstum. Die Eltern befürchteten, dass sie ihr Kind bald nicht mehr selbst tragen könnten. Ihre schlimmste Angst war, Ashley in ein Pflegeheim geben zu müssen, denn qualifiziertes und bezahlbares Personal hätten sie nicht auftreiben können.
Vielleicht hätten die Eltern die Möglichkeit gehabt, nach anderen Finanzierungsquellen für Ashleys Pflege zu suchen. Und nach geeigneten Hilfsmitteln, wie einem größerem Liegerollstuhl oder einem Lifter, mit dem ein erwachsener Mensch aus dem Bett herausgeholt werden kann. Ashleys Eltern und Ärzte aber wählten einen anderen Weg. 2004 starteten sie eine Behandlung, die sie das „Ashley Treatment“ nannten. Dem Kind wurde Östrogen in hohen Dosen gespritzt. Das weibliche Geschlechtshormon stoppte das Wachstum der Knochen, gleichzeitig raste Ashley im Schnelldurchlauf durch die Pubertät. Die Brustansätze samt Brustdrüsen wurden ihr operativ entfernt, um ein weiteres Wachstum zu verhindern. Dadurch sei auch ihr Risiko minimiert, Brustkrebs zu bekommen. Auch die Gebärmutter wurde Ashley entfernt, damit sie keine Menstruation bekommen kann. Abgesegnet hat die Prozedur ein Ethikkomitee des behandelnden Kinderkrankenhauses in Seattle. Durch einen Artikel in einer medizinischen Fachzeitschrift erregte der Fall weltweit Aufsehen, Zustimmung und Protest. Fachleute kritisieren die Risiken einer solchen aggressiven Hormonbehandlung. Und Kritiker befürchten, dass das Beispiel Ashley Schule machen könnte.

Eine Frau soll Ashley nicht werden
Ashleys Eltern beteuern auf ihrer Homepage*, dass sie nur die Lebensqualität ihrer Tochter verbessern wollten. Für Ashley sei es sehr wichtig, dass man sie bewegen, sie im Arm halten könne. Die Eltern nennen aber noch andere Gründe. Es sei „würdevoller“ für sie, in einem kleinen Mädchenkörper zu leben, statt in einem erwachsenen Frauenkörper. Sie soll weiter in ihren Kinderwagen reinpassen. Sie soll weiter problemlos in die Badewanne gelegt werden können. Wenn sie den Familienmitgliedern zu schwer geworden wäre, hätte sie nicht mehr ohne Weiteres bei der Familie im Wohnzimmer dabei sein können, und stattdessen in ihrem Zimmer liegen und an die Decke starren müssen. Ihre großen Brüste hätten auf Pfleger anziehend wirken und zum Missbrauch ermutigen können.

Tatsächlich, vieles kann passieren, wenn ein Körper pflegebedürftig ist, und wenn ein pflegebedürftiger Mensch seine Bedürfnisse nicht klar äußern kann. Fraglich ist aber, ob die Risiken des Lebens mit einem behinderten Körper sich wirklich so dramatisch von den Risiken eines Lebens mit „gesundem“ Körper unterscheiden. Dass Ashley sich mit einem Kinderkörper lebenslang wohler fühlen wird, scheint mir eher Wunschdenken und Projektion der Eltern zu sein als eine Tatsache. Ein kindlicher Mensch mit einem „engelsgleichen“ Gemüt in einem Frauenkörper der – zumindest theoretisch – in der Lage wäre, Sexualität zu erleben – für die Eltern scheint das unvorstellbar zu sein.

Körper passend gemacht
Was hat Ashley zu tun mit Fahrstuhlknöpfen, Beinverlängerungen und Wachstumshormonen, mit mir? Eine ganze Menge, glaube ich. Der Satz „Nicht ich bin behindert, sondern ich werde behindert“ ist inzwischen ein geflügeltes Wort geworden. Er bedeutet: wenn die Treppen nicht wären, wäre ein Rolli kein Problem. Trotzdem: Praktisch ist es immer noch so, dass sich Körper der Welt anpassen müssen. Da muss man eben noch ein bisschen größer werden, um an die Kuchentheke ranzukommen. Oder eben, wenn man pflegebedürftig ist, klein und leicht genug bleiben, damit man keinem zur Last fällt.

Fällt der Körper aus der Norm hat er eben Pech gehabt, oder er muss sich anstrengen. Oder sich dauerhaft der Umgebung anpassen. Hauptsache, der Körper funktioniert effektiv und stört nicht. Ziemlich weit entfernt ist das von einer Welt, in der jeder Körper einfach so sein darf wie er ist.

* http://ashleytreatment.spaces.live.com

Rebecca Maskos

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