Kein Wort nirgends

Seit langem schon fällt mir auf, dass sich Betroffene mit dem Begriff „Behindert“ sehr schwer tun. Ersatzbegriffe wie „gehandicapt“ werden dann angewandt, ein wie ich finde auch untauglicher Versuch, dem Stigma zu entkommen. Ich denke, die Ursache hierfür ist, dass man diesem Urteil – dieser Verurteilung entkommen will.
Hier drängt sich mir auch die Frage auf, warum man die Behinderung, die ja nichts Selbstgemachtes ist, sondern von außen auf die Betroffenen einwirkt, derart in den Blickpunkt bringen muss, dass es den Anschein hat, als bestünde der Betroffene ausschließlich aus Behinderung. Wie soll er sich mit sich und seinen Gegebenheiten identifizieren, wenn scheinbar nur diese ihn ausmachen, und die auch noch ausschließlich negativ belegt sind.
Die Betroffenen werden auf ihre vermeintliche Behinderung reduziert. Es interessiert nicht, dass sie oder er eine Frau – ein Mann ist, dass es hier um einen Menschen geht.
Das Wort „behindert“ stigmatisiert die Betroffenen. In unserer Gesellschaft wird behindert mit unfähig gleichgesetzt, und zwar totale Unfähigkeit der Person. Völlig undifferenziert wird hier abgestempelt. Und somit scheint auch schon die Frage des „verantwortlich sein“ geklärt. Die Betroffenen sind schließlich behindert und somit unfähig.
Ist es aber nicht vielmehr so, dass die Gesellschaft behindert?
Stellen wir uns z.B. einen Rollstuhlfahrer vor, der in ein Gebäude möchte, welches aber nur über eine Treppe zu betreten ist. Er hat keine Chance, selbständig dort hineinzukommen, er wird durch die baulichen Gegebenheiten behindert. Wenn es an diesem Gebäude aber eine Rampe gäbe, wäre es kein Problem für ihn hineinzugelangen. Und das obwohl, er doch angeblich behindert ist? Hier zeigt sich für mich deutlich, dass es eine Frage der Perspektive ist. Hätte jedes Gebäude z.B. eine Rampe, wäre Rollifahrern der Zutritt nicht länger verwehrt, sie könnten unbehindert hineingehen. Inwiefern wäre der Rollstuhlfahrer dann noch behindert?
Oder stellen wir uns eine Baustelle auf der Autobahn vor, auf der Sie normalerweise getrost 130 Kilometer die Stunde fahren dürfen. Nun aber aufgrund dieser Baustelle das Tempo auf 60 km/h reduziert werden. Sind jetzt alle Menschen, die dort entlangfahren, behindert, weil sie nicht schneller fahren können? Würde man hier auf die Idee kommen, von Unfähigkeit der Autofahrer zu sprechen? Würde auch nur ein Autofahrer von sich sagen, er sei behindert? Nein, mit diesem Negativ-Prädikat würde sich niemand freiwillig belegen. Jeder würde sagen, ich wurde behindert. Und so ist es ja auch: durch äußere Gegebenheiten oder Umstände wurde er behindert.
Denn das Potential ist ja vorhanden: das Auto ist nicht defekt, es kann lt. Tacho 180 km/h schnell fahren. Nein, man ist nur so lange „unfähig“ schneller zu fahren, bis man nicht mehr durch die Baustelle behindert wird.
Ich finde, hier wird wie auch bei dem o.a. Beispiel, dem Gebäude ohne Treppe, sehr deutlich, dass Behinderung gemacht ist bzw. wird.
Es wird nicht lösungsorientiert mit einer Angelegenheit umgegangen, sondern problemorientiert. Man sieht die Einschränkung eines Menschen, sie wird dem Betroffenen aber als seine Unfähigkeit zugeschrieben, und man ist somit jeder Verantwortung entledigt, (man ist in diesem Fall Jeder, der in einer Baustelle auch ganz schnell ein Behinderter werden kann). Beseitigt man aber nach dem Erkennen der Behinderung dieselbe, gibt es sie logischerweise gar nicht mehr.
Das geht natürlich nicht in jedem Fall. Ein blinder Mensch wird nicht plötzlich wieder sehend, oder ein auf den Rollstuhl angewiesener Mensch wieder gehend. Aber darum geht es auch nicht.

Es geht um eine grundsätzliche Umgangsform unter uns Menschen, unter uns unterschiedlichen Menschen.
Niemals würde ein Mathematiklehrer einem Tierpfleger wegen seiner wahrscheinlich nicht übermäßig vorhandenen Mathekenntnisse als behindert bezeichnen, eine Reinigungskraft bezeichnet einen Bauingenieur wegen wahrscheinlich fehlender Reinigungspraktiken nicht als behindert, und ein Dachdecker betitelt einen Gärtner nicht als behindert, weil er am Boden arbeitet. Diese Reihe an Beispielen ließe sich unbegrenzt fortsetzen.
Betrachten wir diese Sichtweise (behinderter Mensch – nicht behinderter Mensch) doch einfach mal aus der umgekehrten Perspektive. Ich kenne keinen contergangeschädigten Menschen, der alle anderen, die nicht z.B. mit den Füßen schreiben oder essen können, als behindert bezeichnet. Oder halten alle im Rollstuhl sitzenden Menschen die Läufer für behindert, weil sie nicht mit dem Rollstuhl umgehen können?

Was macht es denn dem lieben Mitmenschen so scheinbar leicht, die Betroffenen als behindert zu stigmatisieren, sie ungerechtfertigterweise lebenslänglich zu verurteilen? Ist es vielleicht die Möglichkeit, über eigene „Unzulänglichkeiten“ hinwegzutäuschen? Fühlt man sich dann besser, stärker, größer? Braucht man das für sein Selbstbewusstsein? Oder ist es einfach nur Gedankenlosigkeit? Oder Bequemlichkeit?
Für mich wird die Problematik des Begriffs „behindert“ besonders deutlich, wenn man Bewerbungen schreibt oder sich über einen behinderten Menschen unterhält. Ich glaube, dass es vielleicht einfacher wäre, wenn man die Behinderung direkt benennen würde. Also wenn man z.B. in der Bewerbung schriebe, ich bin contergangeschädigt oder ich sitze im Rollstuhl oder ich bin gehörlos. So setzt man sich vielleicht nicht der Gefahr aus, sofort als absolut unfähig abgestempelt zu werden. Und ich denke, jeder Arbeitgeber kann davon ausgehen, dass ein gehörloser Mensch sich nicht in einem Callcenter bewirbt, ein Rollstuhlfahrer nicht zwingend als Fußballtrainer in der ersten Bundesliga und ein contergangeschädigter Mensch als Kellner. Die betroffenen Menschen können sehr wohl ihre Möglichkeiten einschätzen, und werden es wohlweislich unterlassen, dem Vorurteil der Unfähigkeit auch noch Futter zu geben. Außerdem wird durch die präzise Beschreibung vielleicht der pauschalen Verurteilung der Unfähigkeit ein wenig entgegengewirkt.
Ich sitze im Rollstuhl heisst lediglich, ich kann nicht gehen, ich bin gehörlos – ich kann nicht hören, nicht aber, ich kann mich nicht bewegen bzw. ich kann nicht kommunizieren.

Man sollte vielleicht auch einmal mehr in Betracht ziehen, was eine vermeintliche Unfähigkeit für Ressourcen in sich birgt: ein blinder Mensch, der viel besser seine anderen Sinne ausgebildet hat, ein geistig behinderter Mensch, der keine Angst hat, Gefühle zu zeigen, ein contergangeschädigter Mensch, der bei einem Armbruch noch mit den Füßen essen kann, ein gehörloser Mensch, der sich unterhalten kann, ohne andere zu stören etc. Auch hier ist eine grenzenlose Fortsetzung von Beispielen möglich.

Sofia Plich

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