Schon als Kind wollte ich Schriftstellerin werden, so berühmt, wie Astrid Lindgren, die übrigens im letzten Jahr ihren hundertsten Geburtstag gefeiert hätte, aber das nur nebenbei erwähnt. Ich dachte mir Geschichten aus. Darunter war auch eine über ein Rollstuhldorf, ein Dorf, ungefähr so groß wie ein typisches Brandenburger Kleinstadtdorf, indem alle Bewohner im Rollstuhl saßen. Das ganze Dorf war barrierefrei gebaut worden. Es gab überall Rampen und abgesenkte Bordsteine, kein Kopfsteinpflaster und funktionstüchtige, geräumige Aufzüge. Aber letztere waren in der Architektur meines Dorfes, nur vereinzelt zu finden, da ohnehin beinahe jedes Gebäude so flach gebaut war, dass Aufzüge nicht nötig waren. – Wie wäre so eine Welt, so ein Dorf oder eine Stadt, in der es keine Barrieren für Menschen mit Behinderungen gibt, wirklich?
Ich werde im Folgenden ein kleines Gedankenexperiment, eine kurze Reise in diese Welt unternehmen, die es noch nicht gibt, aber vielleicht einmal geben könnte. Wenn Sie als Leser Lust haben, mich auf dieser Reise zu begleiten, sind Sie nun herzlich eingeladen, weiter zu lesen.
Wir befinden uns nun im Jahr 2058, es ist Winter, Montagmorgen und auf Grund der Klimaerwärmung so warm wie früher im Frühling. Ich bin in unserem Gedankenexperiment immer noch Studentin, was hoffentlich in fünfzig Jahren nicht der Realität entsprechen wird, aber ich denke, es ist leichter, mir auf diese Weise zu folgen. Sie begleiten mich heute ein Stück durch meinen Tag. Ich bin auch in jener Welt auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, denn der Fahrdienst der Stadt wurde aus Kostengründen und als überflüssiger Posten schon vor Jahren abgeschafft, aber ich habe ihn auch damals schon ungern und selten genutzt. Sie fahren also mit mir im Bus und der U-Bahn in die Universität. Im Bus und auf den Straßen, sowie in öffentlichen Gebäuden sind akustische und taktile Leitsysteme für Blinde und Gehörlose installiert. Der Aufzug, den wir benutzen, ist aus Glas, das streifenfrei geputzt ist. Er ist leer und fährt deswegen schnell auf den Bahnsteig, da er wegen vieler anderer vorhandener Aufzüge nicht mehr so häufig frequentiert werden muss. Auch der in ihnen vor Jahren noch vorherrschende leichte bis unerträgliche Uringeruch hat sich mit den Jahren, in denen diese Welt existiert, in Luft aufgelöst. Die U-Bahn hat die Lücke zwischen Bahnsteigkante und Bahn durch eine kleine elektrisch ausfahrbare Rampe geschlossen und so gelingt es mir, ohne Erschütterung in die U-Bahn einzusteigen. In der Bahn sind auf dem Boden Verankerungen eingelassen, die mich in meinem Rollstuhl fest und sicher stehen lassen.
Nach Beendigung meiner Seminare
überlege ich mir, mit dem Bus zurück nach Hause zu fahren, da ich keine Lust habe, schon wieder im Halbdunkel der U-Bahn zu sitzen. Aber auch das stellt kein Problem dar. Der Busfahrer ist sehr freundlich, fährt in angemessenem Tempo, der Bus ist so abgesenkt, dass ich auch hier sehr sanft einsteigen kann und ich schlüpfe wieder in die im Boden eingelassene Verankerung. Während der Fahrt unterhalte ich mich mit einem Mann in Anzug und Krawatte, der neben mir in den Verankerungen steht und zu einem Geschäftstermin unterwegs ist. An der nächsten Haltestelle steht eine ältere Frau im Elektrorollstuhl, auch sie steigt ein. Der Bus ist so geräumig, dass neben uns dreien noch ein weiterer Rollstuhl hier Platz hätte. Da ich bald Semesterferien habe, überlege ich mir ein Reiseziel. Da ich mich aber nicht entscheiden kann, wohin die Reise gehen soll, suche ich ein Reisebüro auf. Die Frau, die mich hinter der elektrisch aufgehenden Tür erwartet, ist sehr freundlich, was damit zu erklären ist, dass sie mir eine sehr teure Reise verkaufen will. Sie unterbreitet mir einige Vorschläge. Eine Tour in die Alpen, eine Fahrt durch die Sahara mit Kamelen und Motorrad, das Kamel hätte einen speziellen Rollstuhlsitz auf seinem Rücken, ebenso wie das Motorrad. Als drittes Angebot unterbreitet sie mir eine Tour auf den Mount Everest, dort wäre vor kurzem der neue Aufzug fertig geworden, der jetzt sogar bist ganz auf die Spitze fahren könne, weil im Fahrstuhl Sauerstoff sei. Man dürfe sich dann nur nicht hinausbewegen. Die Reise nach Amerika wäre auch kein Problem. Man könne jetzt in speziell dafür vorgesehenen Rollstuhlvorrichtungen in seinem Rollstuhl sitzen bleiben und könne bei Bedarf sogar in eine Art Tiefschlaf versetzt werden. Ich lehne alle drei Angebote der Frau dankend ab und gehen nach Hause, mit dem Gefühl, dass solche Reisen eigentlich vollkommen überflüssig und überteuert sind – für eine Studentin der Philosophie.
Hier setze ich mit meinen Überlegungen mal zum Landeanflug an. Wir gehen wieder ungefähr fünfzig Jahre zurück und befinden uns Anfang 2008. Natürlich wäre eine solche Welt viel unkomplizierter und praktischer. Würden einem nicht aber auch viel entgehen? Wenn der Rollstuhl oder die Behinderung kein Problem in der Praxis und für die Umgebung mehr darstellen. Würde man nicht viele sehr skurrile und humor-
volle Begegnungen
verpassen? Aber auch
nette und freundliche Menschen nie kennen lernen, die einen zum Beispiel die Treppen hoch tragen, wenn der Fahrstuhl wieder außer Betrieb ist. Vor kurzem hatte ich wieder so ein Erlebnis. Ich traf einen älteren Mann mit schwarzem Lederhut und Ledermantel. Er stieg mit mir in den Aufzug ein und beschwerte sich über den Geruch. Dann sah er mich an und fragte, was man machen würde, wenn der Fahrstuhl nicht funktionierte. Ich sagte ihm, dann würde man mich die Treppe hoch tragen oder eine andere Strecke wählen. Er lachte, spannte seinen Oberarmmuskel an und fragte, ob man das ganz allein durch Muskelkraft schaffen würde. Ich nickte und er streichelte mir über den Kopf und verließ den Aufzug. Ich fand das merkwürdig und anstrengend. Aber in einer barrierefreien Welt, wie ich sie versucht habe hier darzustellen, hätte ich den Mann im Ledermantel wahrscheinlich nie getroffen und hätte somit auch nichts über ihn schreiben können, ich wäre ihm nicht aufgefallen, wäre eine unter vielen. Aber in einigen anderen Situationen kann es durchaus angenehm und auch praktisch sein, aufzufallen und dadurch zu etwas Besonderem gemacht zu werden.