Erstmal ein Bier holen am Deich. Es ist einer
dieser ersten lauen Sommerabende. Bremerinnen
wie mich zieht es dann an den Osterdeich.
Dort kann man sich von den letzten Strahlen der untergehenden
Sonne wärmen lassen. Dabei den Hippies beim Bongospielen zuhören
und sich vor einem vorbeifliegenden Fußball der Halbwüchsigen aus dem Viertel
wegducken. Tausende Bremer entspannen im Sommer direkt an der Weser. Und
kurz davor holt man sich noch ein Becks beim Kiosk am Ende des Sielwalls, in der
kleinen Hütte, die direkt am Deich steht, komplett in den Werder-Vereinsfarben gehalten.
Ich parke meinen Mini-Trac vor dem Kiosk, trenne ihn von meinem Rolli, den ich an
diese kleine elektrische Zugmaschine angekoppelt hatte. Nachdem ich meine Becks-
Bestellung vorgebracht und ihm zwei Euro auf den Tresen gelegt habe, spannt sich
ein breites Grinsen über das Gesicht des Kioskbesitzers. “Nein, behalten Sie das
Geld”, sagt der Kioskmann in breitem osteuropäischen Akzent. Er klopft sich auf seine
Brust. “Kommt von Herzen. Trinken Sie einen auf mich!” Nach einem kurzen Moment
der Sprachlosigkeit und inneren Sammlung frage ich ihn ungläubig: “Sind Sie
sicher?” “Ja, bitte! Trinken Sie auf mein Wohl”, sagt er. Ich steckte meine zwei Euro
wieder ein. Was soll ich sagen.
Ich überlege kurz, ob ich zu dem empörten Proteststurm ansetzen soll, den ich früher
bei solchen Gelegenheiten losgelassen hätte. Geldgeschenke bekomme ich nicht
zum ersten Mal. Gut erinnere ich mich an die ältere Frau, die mir in der Fußgängerzone
außer Atem nachgerannt kam, um mir mit sanfter Gewalt ein Zwei- Markstück
in die Hand zu drücken – “hier, kauf Dir ein Eis!”. Oder an die Frau, die mir ein paar
Euro gab und dafür meine Zeitung haben wollte. Ich hatte an einer Straßenkreuzung
gesessen, wartete auf jemanden und las dabei eine Tageszeitung. Sie dachte
ihrerseits, ich wolle den “Straßenfeger” verkaufen. Kopfschüttelnd denke ich immer
wieder an die Obdachlosen, die einen Teil ihrer Ausbeute zusammenlegten und mir
schenkten, und sich partout weigerten, das Geld zurückzunehmen. Klar, in ihren Augen
war ich noch mieser dran als sie selbst: Kleinwüchsig, und dann noch “an den
Rollstuhl gefesselt”. Ein schlimmes Schicksal, soviel war klar. Auch die Bekannstschaft
mit Ladenbesitzern und Taxifahrern, die mir ihre Dienste und Waren unbedingt
umsonst anbieten wollten, durfte ich schon oft machen.
“Almosen wird die materielle Gabe an den Notleidenden genannt. Als Betätigung der
Barmherzigkeit, einer unerläßlichen Teilverwirklichung der Nächstenliebe, ist Almosengeben
sittliche Pflicht”, weiß das “Lexikon der christlichen Moral”. Und: “Wer
Eigentum erwirbt, übernimmt damit auch die Pflicht, nach seinem Können dem bedürftigen
Mitmenschen beizustehen. Schon das Alte Testament fordert nachdrücklich
Almosen. (Tob 4,7-11)… . Jesus mahnt: ‘Dem, der dich bittet, gib’ (Mt 5,42; vgl.
9,21; Lk 12,33). ‘Geben ist seliger als Nehmen’ (Apg 20,35)”.
Damit ist die Sache eindeutig: Kioskmann hat Eigentum (Bier) und ich bin natürlich
die jenige, die “bittet”. Als Partnerin im Vertragsverhältnis Kauf-Verkauf, das er
sonst zigfach am Tag eingeht, komme ich nicht in Betracht. Seinem Platz bei den Engeln
im Himmel ist er durch die milde Gabe wieder ein kleines Stückchen näher gekommen.
Es muss für ihn sonst auch schwierig sein, seine Mildtätigkeit an Horden
besoffener Werder-Fans oder zugekokster Szene-Deichfans auszuleben. Also wäre ja
allen geholfen, mir inklusive, – ich habe das Umsonst-Bier mittlerweile sowieso schon
eingesteckt. Eine Win-Win-Situation eigentlich.
Richtig schmecken will mir das Becks trotzdem nicht, als ich zwischen ausgedrückten
Kippen und stöckchenhinterherlaufenden Hunden die Sonne untergehen sehe.
Wahrscheinlich brauche ich einfach noch mehr Übung als skrupellose und dennoch
würdevolle Nutznießerin von Barmherzigkeit. Prost, Kioskmann!