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Petra Stephan ist Mitgründerin des Berliner Zentrums für Selbstbestimmtes Leben (BZSL) und Dozentin am Institut für Medizinische Psychologie an der Charité. Im Interview mit mondkalb berichtet sie über Behindertenpolitik und Medizin in Ost und West.

Frau Stephan, sie waren bereits in der DDR Mitarbeiterin der Charité. Wie ist es dazu gekommen?

Ich habe zwischen 1972 und 1976 Psychologie an der Humboldt-Universität studiert. Die Absolventen bekamen nach dem Diplom für die ersten drei Jahre eine Arbeitsstelle vermittelt, auf der sie gebraucht wurden. Von den Stellen, die in meinem Abgangsjahr angeboten wurden, passte für mich keine, weil die Räume nicht rollstuhlzugänglich waren. Schließlich habe ich mit Hilfe eines Freundes eine Eingabe an den Staatsrat geschrieben. Die führte zu einem Gespräch mit einem Verantwortlichen des Gesundheitsministeriums. Auf eine Empfehlung hin habe ich dann bei der Charité nachgefragt. Mir konnte ein so genannter geschützter Arbeitsplatz eingerichtet werden, damit wurde der Übergang vom Studium in den Beruf für schwerstbehinderte Menschen finanziell für ein Jahr unterstützt. Dann musste der Betrieb sich entscheiden, ob er denjenigen behält. Meine Chefs entschieden, sie können mich behalten. Es gab dann noch einmal eine kritische Situation nach der Wende, als alle Arbeitsplätze befristet wurden, aber nach so vielen Jahren musste man mich nach den westdeutschen Arbeitsgesetzen 1995 dann doch wieder unbefristet anstellen.

Als Psychologiestudentin in den 1970er Jahren waren sie ja bestimmt ein Unikum.

Ja, ich war die ganz große Ausnahme. Es gab damals vielleicht sechs behinderte Studenten an der Humboldt-Universität. Ich glaube, ich war die einzige, die im Rollstuhl saß. Die anderen waren gehbehindert. Blinde studierten schon ein paar mehr in Berlin, Jena oder Leipzig. Meine Kommilitonen haben mich acht Semester lang durch das Studium getragen, treppauf, treppab …

Immer an der Feuerbach-These von Karl Marx im Foyer vorbei: „Es kommt darauf an, die Welt zu verändern …“

Genau, auch an diesem Spruch vorbei, aber ich studierte mehr in einem Haus in der Oranienburger Straße . Dass mich meine Kommilitonen in jede Veranstaltung tragen mussten, war organisatorisch gar nicht so schwierig, weil wir übers Semester in Seminargruppen zusammenblieben. Die Männer hatten natürlich vorzugsweise das „Vergnügen“.

Jede Hilfe, die sie brauchten, bekamen sie von Mitstudierenden?

Ja, ohne Netz und doppelten Boden, ohne Bezahlung. Wenn wir nicht in der Gruppe zusammen waren, trugen mich auch Dozenten oder Studenten aus anderen Semestern. Es hat mich schon belastet, aber ich habe versucht, nicht so viel darüber nachzudenken. Wenn man zu den Personen ein Vertrauensverhältnis hat, dann geht das einigermaßen, aber ich war froh, als die Zeit zu Ende war. Ich wollte einen Arbeitsplatz finden, an dem ich allein in alle Räume komme. Und das war in der Charité möglich. Ich wurde dort später integriert als Mitarbeiterin der Klinik für Neurologie und Psychiatrie. Die Fortbildung zur Psychotherapeutin habe ich mir dann so organisiert, dass ich sie gut erreichen konnte.

Und wie waren sie mobil?

1973 bekam ich einen der ersten E-Rollstühle, die die DDR importiert hatte. Die Legende sagt: Die westdeutsche Firma Meyra hatte einen Stand auf der Leipziger Messe, an dem der Wirtschaftsminister Günter Mittag vorbeigegangen sein soll. 1972 kaufte dann der Staat zehn Elektrorollstühle, 6000 DM das Stück. Die wurden zentral von der Klinik für Rehabilitation in Berlin-Buch vergeben, und ich erhielt einen auf Antrag. Auch Regina Reichert, die in Halle studierte, und Uschi Marquardt haben einen bekommen, beide später Mitarbeiterinnen des BZSL. Man gab die Rollstühle Personen, von denen man wusste, dass ihre Behinderung nicht mehr besser wurden. Als ich auf dem Parkplatz vor dem Studentenwohnheim meine ersten Runden drehte, standen viele am Fenster, winkten mir zu und klatschten. Das war eine sehr berührende Situation.
Zur Arbeit bin ich dann mit der S-Bahn gefahren, vom Ostbahnhof zur Friedrichstraße. An den Bahnhöfen gab es Lastenaufzüge und sehr viel mehr Personal als heute. Man musste sich anmelden. Die Züge hatten eine Rampe im Wagen, die der Fahrer ausgeklappt hat. Der DDR-Bürger war es auch gewöhnt, dass man sich gegenseitig hilft. Es gab keine rollstuhlgerechten Busse und Straßenbahnen. Später wurde ein Fahrdienst eingerichtet, dessen Fahrten aber kontingentiert waren. In den klapprigen Bussen konnte man nicht gut sitzen.
In der DDR gab es einen Blinden- und einen Gehörlosenverband. Waren die Blinden und Gehörlosen in einer besseren Situation als andere Behinderte?
Der Blinden- und Sehbehindertenverband der DDR genoss sehr viel Reputation, sehr viel mehr als die Gehörlosen, die gar keine Lobby hatten. Und Gebärdensprache war nicht gewünscht, man unterrichtete die Kinder nur in Lippenlesen und Lautsprache. Die Bildung war nicht gut, nur bis zum Realschulabschluss, aber nicht bis zum Abitur. Von den Hörbehinderten, die ein Hörgerät nutzen konnten, studierten manche. Es gab zwei zentrale Schulen, die zum Abitur führen, das war Birkenwerder für Körperbehinderte und eine sehr gute Einrichtung in Königswusterhausen für Blinde und Sehbehinderte. Andere Schulen bildeten Gehörlose bis zur Mittleren Reife aus und bereiteten sie auf Arbeit in Betrieben vor, zum Beispiel als Feinmechaniker oder Zahntechniker. Aber die Lehrlinge wurden insgesamt nicht gut in die Gesellschaft integriert. Bei den Lernbehinderten und den Mehrfachbehinderten unterschied man zwischen den Hilfsschülern, die Lesen und Schreiben konnten, und den anderen, die gar nicht gefördert wurden, auch nach der Schule nicht. In der DDR gab es laut Verfassung ein Recht und eine Pflicht zur Arbeit. Wenn man sich verpflichten wollte, aber keinen Arbeitsplatz bekam, konnte man mit dem Recht auf Arbeit punkten.

Wenn über die Geschichte der Behindertenbewegung gesprochen wird, dann erzählt man oft von den Protesten der westdeutschen „Krüppel“ gegen das UNO-Jahr der Behinderten 1981. Dabei wird dann vergessen, dass es das auch in der DDR gab. Dort spielte das UNO-Jahr ebenfalls eine wichtige Rolle.

Im September 1979 erhielten ich und andere eine Einladung von Professor Presber vom Zentralklinikum für Rehabilitation in Buch. Es ging um ein Gespräch zur Vorbereitung des UNO-Jahrs. „UNO-Jahr der Behinderten“, sagte man im Westen, in der DDR „Geschädigte“. Professor Presber hat uns gesagt, dass er als Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Rehabilitation einen Kongress in Leipzig vorbereiten soll und uns einbeziehen möchte. 1980 reiste er zum Weltkongress in Ottawa und erzählte uns hinterher – was er wahrscheinlich nicht durfte –, dass Behinderte dort eine eigene Arbeitsgruppe bildeten. Außerdem war er jemand, der an seiner Klinik Stellen für Behinderte schuf und der veranlasste, dass die ersten rollstuhlgerechten Wohnungen entstanden, mit Rampen und breiteren Türen. Als Präsident des Versehrtensportverbands der DDR versuchte er den Oberen und auch seiner eigenen Kaste, den Ärzten, beizubringen, dass Behinderte etwas leisten können. Das war psychologisch klug, weil der Sport ein Aushängeschild war. Es ging ganz viel über Leistung. Professor Presber hatte nicht so sehr den Blick auf die psychisch Kranken oder die Lernbehinderten, sondern nur für die, die als leistungsfähig galten und die er noch mehr pushen wollte; aber das war auch eine taktische Frage. Es ist ihm gelungen, auf den Kongress in Leipzig eine kleine Gruppe von Behinderten einzuladen. Ilja Seifert (heute behindertenpolitischer Sprecher der Partei Die Linke – Red.) durfte dort einen zehnminütigen Vortrag halten. Presber wollte auch, dass wir eine eigene AG der Gesellschaft für Rehabilitation bilden, aber das wurde vom Vorstand abgelehnt. Er führte mit uns jedoch zwei offizielle Veranstaltungen durch, zu baulichen und – Vorurteile durfte man nicht sagen – zu kulturellen Barrieren.
In Berlin haben wir dann illegal und inoffiziell weitergemacht. Wir haben ein paar Sachen erreicht, z.B. den Umbau von Theatern und Kinos oder die Einbeziehung in die Planung des Nikolaiviertels. Dazu kam sogar ein Generalbaudirektor mit Sekretärin zu uns in die Wohnung. Wir trafen uns einmal im Monat und träumten davon, eine offizielle Organisation zu gründen, aber das war verboten. An den Gesundheitsminister schrieben wir einen fünfseitigen Brief, den ich auf meine Kappe nahm. Der Minister dankte uns auf einer knappen dreiviertel Seite für persönliches Engagement, untersagte uns aber eine Organisationsgründung. Es gab in der DDR nur kontrollierte Vereine und Wissenschaftsorganisationen.
1984/85 hatten wir keine Kraft mehr. Die ersten Behinderten reisten aus. Ich habe mir gesagt, du machst jetzt nur noch auf privat. Aber ich besuchte Eckhard Porst in Westberlin, einen früheren Mitstreiter, der aus Ost-Berlin ausgereist war. Der gab mir die Krüppelzeitung und die randschau. Zuerst habe ich das gelesen und wieder beiseite gelegt, stieß dann aber auf einen Artikel von Adolf Ratzka vom Stockholm Independent Living Center. Als 1989 die Wende kam, dachte ich, jetzt ist der Augenblick, um das BZSL nach dem schwedischen Vorbild gründen. Da waren dann Regina Reichert, Denise Kastler und andere dabei. Der SED-Bezirksbürgermeister von Prenzlauer Berg, Wolfgang Schulze, wollte noch ein gutes Werk tun und gab uns zu guten Konditionen eine Altbau-Parterrewohnung in der Marienburger Straße. Wir zogen ein, kurz bevor er am 18. März 1990 abgelöst wurde.
Als kleine und jetzt formale Gruppe integrierten wir uns dann bei ISL (die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland ist die landesweite Dachorganisation der Beratungsstellen von Behinderten für Behinderte – die Redaktion). ISL war noch sehr jung, die krüppelbewegten Zeiten schienen noch durch. Wir lernten da auch politisch aggressiv auftretende Personen kennen, das war allerdings nichts für uns. Wir wollten keinen Radikalismus mehr, den wir in der DDR auf staatlicher Seite ja schon gehabt hatten. Wir wollten aber auch nicht das ganz Übliche, nicht zurück zu gemischten Gruppen, mit Nichtbehinderten oder den Eltern Behinderter. Wir übernahmen stattdessen Konzepte aus Bremen. Von einem befreundeten Theologen bekamen wir dort ein Wochenendseminar über den politischen Überbau der BRD. Wir mussten uns ja völlig neu orientieren. Auf einmal galten unsere DDR-Behindertenausweise nicht mehr. Unsere neuen Ausweise wurden befristet. Es könnte ja eine Spontanheilung eintreten…

Wenn sie eine behindertenpolitische Bilanz ziehen müssten: Könnten sie sagen, was eher negativ an der DDR war, von dem sie froh sind, dass es vorbei ist? Und was war eher positiv, von dem sie sagen würden: „Das ist ein Verlust, das hätte man 1990 erhalten müssen“?

Ich war verblüfft, wie ähnlich die beiden Systeme waren, vor allem, was die Ausgrenzung und Separierung von Behinderten betrifft. Die einen lebten in einem etwas goldeneren Käfig, die anderen mussten sich viel mehr mit der Frage beschäftigen, wie sie zum Beispiel an leichtere Rollstühle und Ersatzteile kommen. In der Sonderschulpädagogik gab es keinen großen Unterschied. Die Sonderpädagogen hätten leicht gemeinsame Kongresse veranstalten und dabei über die gleichen Themen reden können, nur dass die DDR-Experten zusätzlich sozialistische Phrasen gedroschen hätten.
Die heutigen Verhältnisse sind nicht optimal, aber sie sind sehr viel besser, auch deshalb, weil sich die Technik positiv entwickelt hat. Das fängt beim PC an und hört bei Rollstühlen, Hilfsmitteln und Prothesen auf. Der technische Fortschritt wäre sowieso gekommen, auch unabhängig vom System, aber wir wären in Ostdeutschland sehr hinterhergehinkt. Meine eigene Lebensqualität verbesserte sich sehr. Ich hatte aber auch biografisch viel persönliches Glück und wurde von meinem Umfeld immer unterstützt.
Was ich in der DDR fairer fand, war der Umstand, dass man als Behinderter eher wusste, worauf man sich verlassen konnte. Wenn man sich ein Auto anschaffte, wusste man, dass man alle paar Jahre 4000 Mark und einen Zuschuss für Benzin erhält, wenn man eine Arbeitsstelle hat. Bestimmte Leistungen waren klarer, für alle da und unbürokratischer zu erlangen. Heute wird man fast als Verbrecher hingestellt, wenn man sich beim Arzt nicht das billigste Medikament verschreiben lassen möchte. Das betrifft auch alte Menschen, wie ich durch meine Mutter erfahre. Es war in diesem Punkt in der DDR einfacher, auch für Menschen, die ihre Interessen nicht so gut durchsetzen konnten. Früher musste der Arzt einem mitteilen: „Ich würde Ihnen gern die Leistung geben, aber ich habe sie nicht.“ Heute sagt er: „Ich könnte sie Ihnen geben, aber mein Budget erlaubt es nicht.“
Mir fällt an den Studierenden heute auf, dass sie in Bezug auf Behinderung aufgeklärter und aufmerksamer sind und dass sie auch mit Behinderten zu tun haben. Aber die Toleranz schlägt auch in Nichtbeachtung um. Nach dem Motto: Jeder soll nach seiner Fasson selig werden, aber ich will damit nichts zu tun haben.
Es gibt in unserem Land Parallelgesellschaften, nicht nur in Bezug auf Migration, sondern auch zwischen Arm und Reich oder in den sozialen Hierarchien. In der DDR war das einfacher. Wenn im Winter der Trabi vor der Nervenklinik stand und nicht ansprang, standen Professoren und Oberärzte um mich herum. Der eine fummelte an den Zündkerzen, der andere sagte: „Lassen sie das Ding abschleppen, ich fahre sie nach Hause.“
Das medizinische System ist heute genauso wenig auf Behinderte vorbereitet wie damals. Es gibt nicht genügend Personal, nicht genug Betten, es gibt einen Pflegenotstand. Was ich vermisse, sind engagierte Mediziner. Heute haben Ärzte keinen sozialen Blick für ihre Patienten mehr. Früher wurde ich immer gefragt: „Was arbeiten sie denn?“ Heute heißt es: „Ach, sie arbeiten noch?“ In der Medizin ist der Blick auf die Gesellschaft deutlich reduziert.

 

Interview: Michael Zander

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