Der Berg ruft

Mitte der neunziger Jahre soll es gewesen sein, an einem kommunalen Wahlsonntag, Berlin war noch irgendwie Synonym für Zukunft und Aufbruch, die Benzin- und Bierpreise waren stabil, es gab viel zu tun, und viele hatten sogar noch Arbeit – auch fernab in Lichtenberg, in den Neubaublöcken außerhalb des Innenstadtringes: Unweit des großen Bahnhofs an der Weitlingstraße wachte der zuständige Kontaktbereichsbeamte in einem Wahllokal darüber, dass bei der Stimmauszählung auch ja alles im Rahmen gültiger Gesetze verlief. Und wie man sich erzählt, hatte der Mann nichts zu beanstanden; selbst die nunmehr dritte Stimme für eine rechtsextreme Wählerinitiative fiel da kaum ins Gewicht: „Ach Gottchen“, sagte der Polizist. „Drei? Die kenne ich, das müssen fünf sein.“ Nun waren es schon damals der braunen Kameraden mehr, so dass vor kurzem der Einzug der NPD in die Bezirksverordnetenver-sammlung nicht wirklich überraschte. An den lokalen Gegebenheiten aber änderte das nur wenig. Traditionell ist dieser Ostberliner Großbezirk eine Hochburg der Linkspartei.PDS. Ohne das Wort von den Seilschaften zu bemühen, gilt die Verwaltung hier allgemein als parteienresistent. Im Rathaus wurde also einfach die Zugbrücke wieder hochgezogen, und die Nationalen sitzen seitdem fest – mit einer Fraktion die auf ein Mofa passen würde (plus einen, der schiebt).
Dass Lichtenberg besser als sein Ruf ist, kann man nicht sagen. Lichtenberg hat keinen Ruf.
Irgendwie hat man davon gehört, mehr nicht: eines der letzten Bollwerke gegen die Stuttgartisierung Berlins und – bedauerlicherweise – die bekannteste „No-Go-Area“, auch für Wessis. Denn die Wiedervereinigung hat hier nie stattgefunden; genau genommen ist Lichtenberg 1990 in die Bundesrepublik eingemeindet worden. Lichtenberg ist das Abklingbecken für Stasi-Offiziere und andere Altstalinisten, die hier schon mal auf Bürgerversammlungen beim Stichwort Rente die Menschenrechte einfordern. Schließlich ist ihr Bezirk das Bayern der PDS. Auch wenn die Partei das Rathaus in der Möllendorfstraße jetzt nicht mehr mit absoluter Mehrheit regiert, gehören doch neben der Bürgermeisterin immer noch drei von fünf Stadtbezirksräten zur Linken; die beiden anderen sind immerhin SPD-Genossen. Ach ja, Edmund Stoiber heißt hier Christina Emmrich, und bei ihr wird es garantiert keine „Spitzelaffäre“ geben, das ist sicher. Auf dem Stadtplan sieht Lichtenberg aus wie ein Dorn, den sich Berlin irgendwann eingetreten hat und der leicht angebrochen ins Fleisch gewachsen ist. In Lichtenberg sind irgendwie alle behindert oder zumindest andersbegabt, kognitiv beeinträchtigt oder einfach nur bescheuert. Die Busse fahren hier immer unpünktlich, wenn sie fahren, und das Wetter ist immer schlecht. Eigentlich regnet es das ganze Jahr über. Und überhaupt sind die Kneipen und Cafes in Lichtenberg Reservate des schlechten Geschmacks: Holzvertäfelung, Hirschgeweih und Rex Gildo in der Musikbox. „Hossa!“ für satte fünfzig Cent. Herrgott, wer in dieser verfluchten Gegend lebt, will eigentlich nur weg! Vor einigen Jahren sind sogar die Affen in den Westen geflüchtet, aus dem Tierpark in den Zoo. – Halt! So in etwa redet der Westen, böse Yuppies in der „Paris Bar“ oder bei Udo Walz unter der Trockenhaube. „Die Lichtenberger, das sind doch keine Berliner mehr“, heißt es, „das sind Russlanddeutsche! Der ganze Bezirk ist eine einzige Sowjetrepublik!“ Eine ganz gemeine Diffamierung ist das, Hetze vom Klassenfeind…

Hier nun die Richtigstellung:
Mag sein, dass es in diesem Bezirk keinerlei Glamour gibt. Die Reichen und die Schönen Berlins wohnen woanders, und die einzigen Prominenten in Lichtenberg sind allesamt tot und auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde begraben: So etwa die unsterbliche Käthe Kollwitz oder Eduard von Winterstein, der Nestor des deutschen Theaters. Bei Friedrich Archenhold, dem Begründer der nach ihm benannten Treptower Sternwarte, kann man auf dem Grabstein das Goethe-Wort lesen: „Den lieb ich, der Unmögliches begehrt“ – und so treffen sich jedes Jahr an einem Sonntag im Januar Zehntausende an den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Nur dass etliche von ihnen anschließend auch Blumen bei Walter Ulbricht hinlegen werden und bei Markus Wolf, aber lassen wir das… de mortuis nil nisi bene. Oder wie Jesus sagt: „Lass die Toten ihre Toten begraben.“ (Mat. 8, 22)
Lichtenberg hat bei weitem nicht nur den Friedhof vorzuweisen. In keinem anderen Stadtbezirk haben die Bibliotheken solche langen Öffnungszeiten, werktags bis 20 Uhr und sonnabends bis 18 Uhr. Rund 600.000 Euro hat das Bezirksamt im vergangenen Jahr für ausleihbare Medien ausgegeben, nicht zuletzt für Kinderbücher. Bevor in Lichtenberg die Kinder überhaupt lesen können, erlernen viele schon ihr erstes Instrument. In den Tagesstätten erhalten sie ab dem dritten Lebensjahr kostenlos professionellen Unterricht durch Lehrer der Musikschule.
In keinem anderen Bezirk wird so viel für Behinderte getan oder wenigstens für behinderte Kinder. Mehr als vierhundert von ihnen besuchen die Carl-von Linné-Schule. Deren Direktor plant nun, das Haus einmal im Monat nach 16 Uhr erwachsenen Behinderten als Treffpunkt zur Verfügung zu stellen, um so der drohenden Vereinsamung und Isolation seiner eigenen Schüler und zukünftigen Absolventen entgegenzuwirken. Drei Sozialarbeiter sind bereits neu eingestellt, die dann dafür Soge tragen werden, dass vom Schulclub bis zur Schwimmhalle alles problemlos benutzt werden kann. Behinderte können dann im Internet surfen, Tischtennis oder Billard spielen. Das einzige, was an dieser Schule eigentlich fehlt, ist eine Sauna. Aber irgendwas fehlt ja immer…

Und Lichtenberg fehlt vor allem eine bessere Presse. Man möchte es nicht glauben, Jahr für Jahr erfreut sich der Bezirk weit über einer Million Besucher, genau genommen der Ortsteil Friedrichsfelde: Auch wenn die Schimpansen und Gorillas fort sind, leben im Tierpark immerhin noch 10.000 Tiere (weit über 1000 Arten!) und zwar auf einem Areal von 160 Hektar, womit es sich um den größten Landschaftstiergarten Europas handelt. Und womöglich wurde auf Gottes weiter Scheibe nirgendwo anders als in Lichtenberg einer Schule der Name eines Elefanten verliehen! So geschehen im Falle der Matibi-Grundschule, benannt nach dem ersten im Tierpark-Berlin geborenen Elefanten.
Die meisten der 257.000 Einwohner dieser Verwaltungseinheit verstehen sich gar nicht als Lichtenberger. Jeder Anflug von Lokalpatriotismus ist ihnen fremd. Eigentlich gibt es den „richtigen“ Lichtenberger gar nicht. Das war nie anders. Während am Großbahnhof vor allem Industriearbeiter lebten, war Karlshorst lange Zeit als sehr noble Wohngegend bekannt. Als der Berliner SED-Chef Konrad Naumann 1985 „aus gesundheitlichen Gründen“ seine Ämter verlor und damit auch sein Häuschen in Wandlitz – vorausgegangen war eine öffentliche Rede, in der er, wahrscheinlich unter Alkoholeinfluss, Künstler als „hochbezahlte Nichtstuer“ abtat – bezog Naumann in diesem Stadtteil sein neues Domizil. Karlshorst war schick; noch dazu eine Exklave der alten bürgerlichen Welt. In der Trabrennbahn traf sich zu allen Zeiten die Gesellschaft – selbst kurz nach Kriegsende…
Wie aus einer Chronik der Bezirksverwaltung hervorgeht, geschrieben im August 1945, ging schon wenige Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches im Sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst just in der gleichen Gegend das bürgerliche Leben weiter. Die im Juli 1945 dort veranstalteten vier Renntage hätten mit „30.039 Besuchern, darunter 2.585 Angehörige der Roten Armee, ein gutes sportliches und wirtschaftliches Ergebnis“ erbracht. Ingesamt seien 100.253 Reichsmark an Eintrittsgeldern eingenommen worden und noch dazu 6.866.517 Reichsmark an Wettumsatz.
Die Leute hier kennen aber auch andere Geschichten: Als während des Krieges am Bahnhof Karlshorst ein junger Pole, ein Zwangsarbeiter, erschöpft zusammengebrochen war und von seinen Bewachern mit Gewehrkolben zusammengeschlagen und schließlich zu Tode geschleift wurde, begleitete eine Gruppe aufgebrachter Bürger den Häftlingszug mit dem Ermordeten bis ans Lager. Erst am Lagereingang gelang es den SS-Schergen die empörte Gruppe aufzulösen, nachdem man den Protestierern mit Verhaftung gedroht hatte.

Wie in keinem anderen Berliner Großbezirk hat die jüngere deutsche Geschichte in Lichtenberg ihre Spuren hinterlassen. Erich Mielke hatte hier sein Ministerium. „Nimm nie ihre Hand, die sie dir gibt“, sang Bettina Wegner in den siebziger Jahren, „ach, sonst hat dich Magdalena totgeliebt“. Lange her, dass jeden Morgen in der U-Bahn ausgerechnet hinter der Haltestelle Magdalenenstraße plötzlich Dutzende Sitzplätze frei wurden. Denn all die Männer, die sich eben noch schweigend an ihrem Diplomatenkoffer festgeklammert hatten, sprangen wie auf ein Zeichen hin auf und verließen den Zug. Die Liedermacherin erinnert sich, in der U-Bahn einmal sogar ihrem Stasi-Vernehmer begegnet zu sein. „Mit seinem Koffer saß er mir gegenüber, wir schauten uns an. ‚Tach’, habe ich gesagt, und er auch: ‚Tach’. Und dann kam auch schon sein Bahnhof…“
Das aber ist lange her. Heute ist Lichtenberg einer der schönsten Bezirke Berlins, der praktisch von der Stadtmitte bis hin zur östlichen Stadtgrenze, zum Barnimer Land reicht. Drei Seen gibt es, den Tierpark und mit dem „Theater an der Parkaue“, das mit drei Bühnen größte Kinder- und Jugendtheater Deutschlands. Man tut dem Bezirk unrecht, wenn man ihn nur auf die vielen Plattenbauten reduziert. In Lichtenberg findet sich auch dörfliche Idylle. Und selbst die besagten Großsiedlungen sind in der Regel saniert. Nirgendwo anders kann man in der Hauptstadt so gut und gleichzeitig so preisgünstig wohnen. Und wer es alternativ mag – und leider auch ein wenig teurer – der zieht eben in den Kaskel-Kiez, in die alte Viktoriastadt nahe dem S-Bahnhof Nöldnerplatz. Erbaut in den Jahren 1872-75 gilt diese Gegend als die erste in Beton errichtete Wohnsiedlung der Welt. Ein Viertel, das völlig von Bahngleisen umschlossen ist, ein urbanes Schienen-Biwak, das man nur durch eine der S-Bahnbrücken betreten oder verlassen kann .
Und demnächst hat Lichtenberg sogar einen Hafen, am Paul und Paula-Ufer in Rummelsburg. Das ist der Ort der Träume, jedenfalls für Paula in Ulrich Plenzdorfs „Legende“ von 1973. Gespielt von der wunderbaren Angelica Domröse, geht sie im Film an dieser Stelle an Bord eines Kahns, auf dem alle ihre Verwandten warten, auch die verstorbenen. „Das ist Paul“, sagt sie und feiert mit ihnen ihr Glück. Und im Hintergrund hört man die Puhdys: „Geh zu ihr /und lass deinen Drachen steigen…“ – Vielleicht muss man sich so die Menschen in Lichtenberg vorstellen, entweder als Paul oder Paula: Sie hat früher bei der Flaschenrückgabe eines Betriebes gearbeitet, von der großen Liebe geträumt und allein ein Kind aufgezogen; während Er als Staatsbeamter die Karriereleiter unaufhaltsam hinaufgestiegen ist. Im Film haben beide einander gefunden. Aber das war nur ein Märchen, eben „die Legende von Paul und Paula“. In der Wirklichkeit gibt es in Lichtenberg kaum noch Betriebskantinen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 17 Prozent. Daran kann auch Paul, der als Apparatschik immer noch oder schon wieder im Bezirksamt sitzt, nicht viel ändern.

Der Autor ging in Lichtenberg zur Schule, lebte später noch einige glückliche Jahre in dem Bezirk und bekommt manchmal ein wenig Heimweh.

Karsten Krampitz

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