Gegen Böses mit Prothese

Comics über Superhelden sind Nachfahren von Volksmärchen und antiken Sagen. Den Volksmärchen entnehmen sie die Idee, dass Menschen ohne Macht oder Reichtum besondere Kräfte benötigen, um die großen Widrigkeiten des Lebens zu meistern.

Aus den antiken Heldenepen stammt die Verherrlichung von (männlicher) Körperkraft und der Bereitschaft zum Kampf. Gleichzeitig sind viele Superhelden in besonderer Weise verwundbar und unvollkommen, so wie der griechische Soldat Achilles oder Siegfried, dessen aus einem Bad in Drachenblut entstandener Körperpanzer eine gefährliche Lücke aufweist. Schwäche und Stärke sind bei den Superhelden zwei Seiten einer Medaille: Der Hulk entstand durch eine atomare Vers trahlung, Daredevil verdankt seiner Blindheit eine geschärfte Wahrnehmung, Batman ist ein depressiver Workoholic der Verbrechensbekämpfung. Ein typischer und zugleich interessanter Vertreter des Genres ist Spiderman, dessen Geschichte in einer großartigen Trilogie verfilmt wurde (USA, 2002-2007). Auf den ersten Blick ist Peter Parker (Tobey Maguire) ein Antiheld. Er trägt eine dicke Brille und steht als Nerd am unteren Ende der sozialen Hierarchie seiner Schulklasse. Aus Schüchternheit wagt er es nicht, seine heimliche Liebe Mary Jane Watson (Kirsten Dunst) anzusprechen. Wie im Märchen kommt ihm jedoch ein Wunder zu Hilfe. Eine gentechnisch veränderte Spinne beißt ihn und verursacht einen Gendefekt, der ihm außergewöhnliche Kräfte verleiht. Fortan benötigt er keine Brille mehr, wodurch Mary Jane auf seine blauen Augen aufmerksam wird; er kann als maskierter Spiderman Schlägereien mit seinen Gegnern bestehen, an Wänden hochkriechen und sich an selbstgesponnenen Netzen durch die Straßenschluchten New Yorks schwingen. Die Superschurken, die er bekämpft, sind seine bösen Zwillinge: Norman Osborn (Willem Dafoe) ist Chef eines Rüstungskonzerns, der für die Armee an „Performance Enhancement“, d.h. an einer künstlichen Leistungssteigerung von Soldaten forscht. Als ein Verlust des Auftrags an die Konkurrenz droht, unterzieht sich Osborn einem Experiment, in dessen Folge er eine Persönlichkeitsspaltung erleidet und fortan im Kostüm des „Grünen Kobolds“ die Stadt terrorisiert. Er tritt allerdings nur als Marionette seines persönlichen Schicksals auf, nicht als Vertreter seiner Klasse. Die alten und neuen Märchen handeln gleichermaßen von Wunscherfüllung. In den von den Brüdern Grimm gesammelten Geschichten geht es meist darum, soziale Grenzen zu überwinden: Nach bestandenen Abenteuern heiratet eine deklassierte Bürgertochter einen Prinzen, ein Schneider heiratet eine Prinzessin. Die Superhelden stimulieren dagegen Träume von körperlicher und mentaler Leistung weit jenseits dessen, was gewöhnlichen Menschen möglich ist. Was beim Helden gelingt, gerät beim Schurken zum Unglück. Der zweite Gegner Spidermans, der Physiker Dr. Otto Octavius (Alfred Molina), forscht an der Gewinnung einer alternativen Energie. Um ein Experiment durchzuführen, verbindet er sich mit intelligenten Greifarmen aus Metall. Der Versuch schlägt fehl und der Wissenschaftler wird von seinen zusätzlichen Gliedmaßen beherrscht, die auf gewaltsame Akquise von Rohstoffen aus sind. Ursprünglich war die Technik als Prothese gedacht, um die Schranken des menschlichen Vermögens zu erweitern; doch sie übernimmt das Kommando und wendet sich gegen ihre Produzenten, wie zur Bestrafung einer Hybris. Eigentlich hätte Parker sozialen Aufstieg so nötig wie seine Grimmschen Vorfahren. Als freier Fotograf und Pizzabote ist er prekär beschäftigt. Die absurden Zeitvorgaben des Fast-Food-Services sind nicht einmal dann einzuhalten, wenn Parker Superkräfte einsetzt. Immerhin wartet auf ihn ein Happy End in Liebesdingen. Trotz aller Widrigkeiten gewinnt er das Herz von Mary Jane, die er mehrfach aus Gefangenschaft herausboxte und die von seinem Doppelleben erfährt. Sie steht, geflohen von einer Hochzeit mit einem anderen Mann, im Brautkleid vor Peter und fragt: „Ist es nicht an der Zeit, dass jemand auch dein Leben rettet?“ Das ist durchaus romantisch, entspricht aber einem traditionellen Geschlechterverhältnis: Männer befreien durch Kraft, Frauen durch Leidenschaft. Nicht, dass solches in der Realität nicht vorkommen oder ersehnt werden dürfte; fragwürdig sind allerdings die Zwänge, die dieses Schema den Geschlechtern auferlegt, wie immer es um die körperlichen und mentalen Grenzen der Individuen bestellt sein mag.

Michael Zander

Comments are closed.