Die Amelos

In den Themenforen diverser Homepages für Behinderte ist ein Phänomen zu beobachten, das spannend und beunruhigend zugleich ist: der immer aufgeregtere Umgang mit bzw. von Amelotatisten. Amelotatismus – von Griechisch: a („kein“ bzw. „nicht“) und melos („Glied“) – bezeichnet in der Fachsprache die besondere Vorliebe für Sexual- bzw. Lebenspartner, denen Gliedmaßen fehlen oder die eine andere körperliche Behinderung haben. Zu der Gruppe der Amelos können im weiteren Sinne auch die so genannten Devotees (Verehrer), Wannabes (die gerne selbst behindert wären) und Pretender (die ihrer Umwelt vortäuschen, sie seien behindert) gezählt werden.

Zum einen gibt es im Internet Treffpunkte für Behinderte wie zum Beispiel www.startrampe.net oder das Forum von www.wiend.at, wo zum „Schutz“ der Teilnehmer das Thema Amelotatismus offiziell ausgeklammert wird – mit nur mäßiger Wirksamkeit, denn natürlich muss eine konzentrierte Ansammlung behinderter Menschen immer wieder wie ein Magnet für Amelotatisten wirken.
Zum anderen haben sich spezielle Foren für Amelotatisten etabliert, zum Beispiel das Forum 32787 bei parsimony.net, das sich etwas verbrämt an „körperlich behinderte Menschen und deren Verehrer“ wendet.
Zwischen den genannten Adressen gibt es einen regen „Spionage-Verkehr“, immer wieder beziehen sich Einträge auf Äußerungen in den jeweils anderen Foren, und zum Teil werden sie auch direkt her- oder hinüberkopiert. Was dabei entsteht, ist aber leider allzu selten ein Austausch im konstruktiven Sinne. Vielmehr kochen die Emotionen hoch: Manch ein Behinderter bläst förmlich zur Hexenjagd auf die „Perversen“, und die so angegangenen „Verehrer“ fühlen sich wiederum brutal und böswillig aus der Gesellschaft ausgestoßen oder beklagen sich über die mangelnde Toleranz der Behinderten. Die Fronten verhärten zusehends, obgleich es an moderaten und vermittelnden Stimmen nicht mangelt.
Worum geht es denn im Kern? Um die Körperlichkeit von Behinderten. Und auf welche Weise sowohl diese Behinderten als auch ihr Umfeld mit dieser Körperlichkeit umgehen. Das ist nun einmal, wie man es auch dreht und wendet, für viele kein einfaches Thema.
Ich selbst bin seit meiner Geburt schwerbehindert. Da ich mich also nicht anders kenne, habe ich zu meinem Körper ein völlig selbstverständliches Verhältnis, ich akzeptiere und mag ihn. Damit ist aber nicht jegliche Problematik beseitigt, denn natürlich verursacht dieser Körper immer wieder auch Krisen, Selbstzweifel und Kratzer am Selbstbewusstsein. Das kennt jede(r), so ein Hin und Her im Selbstbild ist „normal“. Manche Behinderte haben größere Schwierigkeiten, ihren Körper zu akzeptieren, anderen fällt es leichter, und entsprechend locker oder problematisch ist dann auch ihr Umgang mit Erotik und Sexualität. (Ich weiß, wovon ich rede, denn ich selbst gehöre mal mehr zur einen Gruppe, mal eher zur anderen.)
Die „andere Seite“ hat es kaum leichter: Für Fußgänger ist ein behinderter Körper nun einmal eine Herausforderung der ganz besonderen Art.
Und sobald es um Liebe, Zärtlichkeit und Intimität geht, wird es für alle die, die noch nicht ihren eigenen erotischen Weg gefunden haben, erst recht schwierig. Was da alles zusammenkommt:

– Wie sehr nimmt der Behinderte den eigenen Körper an?

– Wie sehr nimmt der nichtbehinderte Partner den eigenen Körper an?

– Wie sehr nimmt man die Leidenschaft des jeweils anderen an? Stellt man sich selbst im stillen Fragen: warum…?

– Wie sehr nimmt man die Liebe des jeweils anderen an? Kann man wirklich voll und ganz darauf vertrauen? Zweifelt man: warum gerade ich, warum gerade sie bzw. er?

Auf beiden Seiten kann auf diese Weise unglaublich schnell eine Verunsicherung entstehen, die letztlich bloß immer wieder mit diesem behinderten Körper zu tun hat.
Lügen wir uns also nichts in die Tasche: Das Thema „Behinderung und Sex“ ist und bleibt für all jene ein brisanter Dauerbrenner, die sich nicht innerlich auf Behinderte einlassen (können oder wollen) und sich folglich auch keine intime Beziehung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten vorstellen können. (Oft genug fehlt den Behinderten ja selbst die Vorstellungskraft und der Mut dazu.)
Und nun gibt es also Leute, die sich ausgerechnet von diesen ganz „speziellen“ Körpern angezogen fühlen. Nicht etwa, dass sie in einer bestehenden Partnerschaft eventuell hinzukommende körperliche Beeinträchtigungen ihres Gegenübers akzeptieren und „mitzulieben“ lernen – nein, hier gibt es tatsächlich einen äußerlichen Trieb- und Schlüsselreiz, der am Anfang des Kennenlernens und Begehrens steht: die körperliche Behinderung.

Ist es nicht logisch, dass darin Zündstoff liegt? Für alle behinderten und nichtbehinderten Menschen, die sich im Umgang mit ihrer und der anderen Körperlichkeit noch nicht sicher sind, werden zusätzlich zu den oben genannten ewigen Fragen noch weitere Fragen aufgebracht: Da geht es plötzlich um die Erotik GERADE des behinderten Körpers, um vermeintliche sexuelle „Abnormitäten“, um Geilheit auf das, was in unserer Sprache traurigerweise „Invalide“ (unwert) heißt.
Und dann beginnt es in den Köpfen der Schockierten zu brodeln: KANN es das denn geben? DARF es das geben? Sollte es (in Bezug auf Behinderte) möglich sein, dass ZUERST der äußere Trieb da ist, und dass DARAUS sich Liebe entwickelt? Wo man doch bestenfalls noch das Umgekehrte für möglich hält: dass die LIEBE den Weg bereitet für die Sexualität mit einem Behinderten.
Wenn wir ehrlich sind, ist doch die sich ständig erweiternde Vielfalt der sexuellen Ausrichtungen in unserer Gesellschaft nichts Besonderes mehr: Allenthalben begegnet man „Erotik“, und das in jeder gewünschten und unerwünschten Art. Die einen fesseln sich, andere lassen sich auspeitschen und wieder andere leeren sich übereinander aus.
Um welche Art von Sexualität es auch geht, natürlich DARF man sich dadurch angewidert und entwürdigt fühlen, wenn man für sich einen Anlass dazu sieht. Mann oder Frau MUSS sich allerdings nicht unbedingt so fühlen, sehr viele sehen die Sache ja auch ganz anders.
Für mich ist das Phänomen des Amelotatismus kein (im doppelten Sinne des Wortes) extraordinäres Phänomen: Auch hier fühlen sich viele benutzt, beleidigt und herabgewürdigt, so wie es auch überzeugte Fürsprecher und Befürworter gibt – wohlgemerkt auch unter den beteiligten Behinderten! Es findet die ganz normale „Verrücktheit“ statt, die man in allen Ecken dieser sexualisierten Welt erlebt. Warum sollten wir Behinderte herausgenommen sein aus diesem Narrenspiel der Lüste? Wir können es ablehnen oder mitmachen, entgehen können wir ihm nicht.
Die Widerwärtigkeit von extremer Pornographie, eindeutigen Anzüglichkeiten und aggressiver Anmache kennt jeder nichtbehinderte Mensch, und in der Gegenwart von „Amelos“ erwischt es halt manchmal auch uns Behinderte, wenn wir es ausgerechnet mit einem Vertreter der primitiven Sorte zu tun bekommen. Es gibt solche und solche. Das kann uns dann genauso unangenehm sein wie jedem anderen Menschen auch, der auf ungute Weise angebaggert oder irgendwie entwürdigt wird. Wir sind sozusagen mal richtig integriert.
Ich vermute, dass „uns Behinderten“ solche Dinge deshalb so nahe gehen, weil wir in diesem Bereich („Behinderung und Sex“) schon so viel zu lernen, zu erfahren und zu kämpfen haben – mit uns selbst. Es ist ja auch so schon nicht leicht, pausenlos die eigene Würde (und Würde des behinderten Körpers) wahrzunehmen und hochzuhalten, ich selbst kenne jedenfalls auch Phasen der Verunsicherung. Wenn ausgerechnet in einer solchen Phase (bei manchen dauert sie einen Moment, bei anderen ein Leben lang) zum Beispiel ein „Amelo“ oder ähnlich Gesinnter unseren Weg kreuzt, kann Verhängnisvolles passieren – es hebt uns aus unseren Angeln. Die Frage ist aber: Ist dieser Andere dann der EXTREM Perverse – oder sind wir selbst nur die EXTREM Verunsicherten?
Wie gesagt: In meinen Augen ist Amelotatismus eine von unzähligen anderen sexuellen „Geschmacksrichtungen“, die zwar für viele Behinderte kein Grund zur Freude ist, die aber nun einmal zur Realität gehört, in der wir mittendrin stecken. „Sicherheit“ kann es nirgendwo geben, niemals und vor nichts. Auch nicht in einer Internet-Community. Was helfen da noch die Aufnahmebedingungen und Regeln mancher Foren? Es hilft schlicht und einfach nicht, Mauern hochzuziehen, um Probleme zu lösen, egal wo und in welcher Hinsicht. Gewissen Dingen und Menschen muss man ins Auge blicken, und wenn es noch so befremdlich sein mag.
Und die Risiken, die die Anonymität des Internets birgt, müssten eigentlich jedem von Anfang an bewusst sein. Lücken in der Sicherheit klaffen da nicht nur in technischer Hinsicht, aber das gilt doch für JEDEN. Die so wunderbar lauschige Vertrautheit mit einem (eigentlich vollkommen fremden) Chatpartner ist allzu oft eine schöne Illusion (manchmal ja auch nicht), aber in jedem Fall ist doch zuerst einmal Skepsis angebracht! Wenn ich im Internet so viel von mir preisgebe, dass ich dadurch verletzbar werde, bin ich doch selbst schuld!
Und wenn mir eine unschöne Begegnung im realen Leben passiert – tja, dann bin ich (unsanfter als mir lieb ist) genau da angekommen, wo ich eigentlich immer hinwill: in der rauhen „Normalität“, und wenn wir Behinderten die angenehmen Seiten der sogenannten Normalität anstreben, kommen wir um die unangenehmen nicht herum. Es gibt keine Schmetterlinge ohne Raupen und keine Oasen ohne Wüsten.

Kai Malte Fischer

Comments are closed.