Jeden Tag, die Tageszeit ist relativ egal, sieht man, wenn man den Fernseher einschaltet, nach geraumer Zeit einem Liebespaar oder einer ähnlichen Konstellation dabei zu, wie sie sich ausziehen, sich meistens ziemlich leidenschaftlich küssen und sich gegenseitig aufs Bett werfen oder über einen Stuhl legen. Die Protagonisten sind groß, schön und häufig blond – behindert sind sie nicht.
In den Vorabendserien Marienhof oder Lindenstraße gibt es rollstuhlfahrende Darsteller. Sie sind der freundliche WG-Mitbewohner oder der gutmütige Arzt im Ruhestand. Letzterer rollte in den letzten Folgen mit Headset auf dem kahlen Kopf als Telefonseelsorger durch sein Wohnzimmer. Seelsorger ist ein schönes Bild: Auch in der zweiten Serie, die übrigens als einzige ihrer Zunft einen echten Behinderten beschäftigt, gibt es den schlagfertigen und charmanten Rollstuhlfahrer, der als „guter Kumpel“ den anderen Figuren bei der Problemlösung ihrer Beziehungen oder Affären behilflich ist. Er selbst hat schon seit vielen Folgen keine Freundin oder aufregende, komplizierte Affären und auch unser rollender Arzt begnügt sich (noch) damit, alleine mit sich und seinem Rollstuhl klassischer Musik zu lauschen.
Der freundliche WG-Mitbewohner durfte nach vier Jahren Serienleben auch einmal eine Freundin haben. (Seine Kollegen haben durchschnittlich zwei oder drei Beziehungen pro Jahr.) Sie war groß, schön und blond. Und auch hier bediente die Serie wieder ein Klischee: sie war so blöd, wie ihr Haar blond. Und er war das „Gehirn“, schüchtern und voller Selbstzweifel, durchaus realistisch dargestellt. Nach dutzenden Problemgesprächen küssten sie sich schließlich, dann ein Schnitt, und schließlich ein glücklicher, im Bett liegender Rollstuhlfahrer, der leise fragte, ob er gut gewesen sei. Die leidenschaftlichen Küsse und Berührungen, den Transport in das Bett, das gegenseitige Abtasten bestimmter Hautstellen in Slowmotion blieb uns Zuschauern verborgen, unter einer Decke versteckt. Wahlweise ist statt der Decke auch Heu im strömenden Regen möglich (Sturm der Liebe, 2006). Aber unbekleidete Körper oder andere nackte Tatsachen werden ausgeblendet. Der Behinderte im deutschen Fernsehen ist körperlos, nur Kopf und Geist.
Er trägt auch im Sommer keine T-Shirts oder eng anliegende Kleidung, die so durchsichtig ist, als wäre sie manchmal ganz und gar überflüssig. Zwar werden Behinderte (meistens Rollstuhlfahrer) in Spielfilmen immer jünger und schöner und gleichen sich damit ihren nicht- behinderten Spielpartnern an, aber in Bettszenen dürfen sie nicht agieren.
Und mal wieder müssen wir erst in ein anderes Land schauen, um auch in dem Bereich Film, Sexualität und Behinderung auf humorvolle Weise Klischees, deren Erkennung, Aufdeckung und Bekämpfung auf Zelluloid zu begegnen. So gibt es im französischen Film das Beispiel eines Muskeldystrophikers, der wegen mangelnden oder besser gesagt, gar keinem Sex die Betreuer und Bewohner seines Heims terrorisiert und schließlich sein Ziel, mit einer Frau zu schlafen, erreicht.
„Straße der Freuden“ von Jean-Pierre Sinapi aus dem Jahr 1999 thematisiert ein Tabu: Behinderung und Sexualität. Der Film zeigt die Thematik auf, stellt sie in den Mittelpunkt und problematisiert sie damit. Sexualität und Behinderung stellen einen Konflikt dar, auch wenn Sinapi diesen nicht konsequent zu Ende führt, denn auch in diesem Film sieht man nur den bekleideten Rollstuhlfahrer und eine leicht bekleidete Frau. Er wird aus dem Rollstuhl gehoben und auf ihr Bett gelegt. Anschließend muss ihm die Betreuerin noch die Hose öffnen und das Überstreifen des Kondoms wird angedeutet. Dann wird die Tür geschlossen und das Folgende wird auch hier nicht gezeigt.
Wir können dennoch einen deutschen Hoffnungsschimmer am Horizont erkennen: Die 2000 herausgebrachte Romanverfilmung „Crazy“, die den Konflikten eines halbseitig spastisch gelähmten Jungen während der Pubertät nachgeht. Und natürlich gehört zur Pubertät auch Sex. Und ihre Darstellung im Film. Im Film sind der Sex und die Behinderung nur ein Problem von vielen und werden schnell gelöst. Dies ist ein guter Anfang, aber leider auch nur ein Anfang und leider mittlerweile auch schon sieben Jahre her.
Film und Fernsehen stellen heute meiner Meinung nach noch mehr als früher einen Spiegel für die Gesellschaft dar. Wenn also Sexualität und Behinderung thematisiert werden, läuft das nicht einfach nur nebenher. Es wird immer zu etwas Besonderem und damit zu etwas besonders Problematischem. Daran ist ja an sich nichts Verwerfliches, aber es bekommt trotzdem einen Stempel von spezieller Anstrengung aufgedrückt und dadurch einen ganz besonderen Blick. Könnte nicht Frederick aus dem Marienhof eine nicht so übertrieben schöne und allein über ihren Körper definierte Partnerin haben, mit der er ins Bett geht, was dann auch gezeigt wird – wie es bei allen anderen Protagonisten von Serien so üblich ist…? Oder auch in Spielfilmen, in denen Rollstuhlfahrer oder Behinderte häufig heute nur als geschlechtslose Opfer ihrer seelischen Zustände, ihres Alters oder eines traumatischen Unfalls über die Leinwand oder den Fernsehbildschirm rollen bzw. geschoben werden.
Serien und Spielfilme sind nicht nur ein Spiegel einer Gesellschaft. Sie sind ein Spiegel für die Gesellschaft, ihre Protagonisten sind Vorbilder für die Zuschauer, sie bieten Identitäts- und Verhaltensmuster an.
Ich möchte hier nicht behaupten, dass das Leben mit einer Behinderung etwas sei, das nur nebenbei läuft. Trotzdem gehört es für einige unter uns zum Alltag, sowie auch Sex zum Alltag gehört.
Doktor Dressler aus der Lindenstraße könnte einfach mal sein Headset abnehmen und tun, was auch in seinem Alter noch Spaß machen kann: Sex… und nicht nur Küsse auf Wangen oder Köpfe verteilen!