„Engagierte Wissenschaft“. Ein Gespräch mit Lisa Pfahl über Disability Studies, Nichtbehinderung und Politik

Lisa Pfahl ist seit Oktober 2013 Professorin für Disability Studies am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Ihre Dissertation „Techniken der Behinderung. Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien“ ist 2011 bei transcript erschienen. Disability Studies gelten als ein wissenschaftlicher Ansatz, in dem die eigene Erfahrung von Behinderung eine herausragende Rolle spielt. Wie gehst Du damit um, dass Du keine Behinderung hast?

Meine Haltung dazu ist komplex. Alle diese wissenschaftlichen Felder, Queer Studies, LGBT, Racism, wurden durch die sozialen Bewegungen an die Uni getragen. Die Personen, die jeweils betroffen sind, spielen darin eine ganz wichtige Rolle. Gleichzeitig ist es nicht so, dass nur Frauen Geschlechterstudien vertreten können oder nur offensichtlich behinderte Personen Disability Studies vertreten. Jede Person hat viele Identitäten, und es gibt meiner Meinung nach keine ideale Vertreterschaft. Könnte ich als Rollstuhlfahrerin für die Blinden sprechen? Ich finde es richtig und wichtig, wenn Personen, die nicht zur Betroffenengruppe gehören, trotzdem die Stimme für deren Anliegen erheben. Und so verstehe ich auch meine Aufgabe.

Warum interessierst du dich für das Thema Behinderung?

Ich habe einen starken persönlichen Bezug zum Thema. Meine Geschwister wurden als sogenannte Lernbehinderte an Sonderschulen beschult und haben die Konsequenzen getragen, die diese segregierte Beschulung und das Stigma der Lernbehinderung nach sich gezogen haben. Der Soziologe Erving Goffman würde mich vielleicht als eine „wise person“ (1) bezeichnen, also als eine Begleiterin derjenigen, die diese Art der Benachteiligung und Stigmatisierung erleben. Ich habe im Zuge dessen die Erfahrung gemacht, wie absolut ausschließend die Klassifikationen der Behinderung in den Bereichen Bildung und auf dem Arbeitsmarkt wirken. Das sind jetzt auch meine beruflichen Themen. Für mich heißt forschen über Behinderung immer auch, das Gespräch mit behinderten Personen zu führen.

Ist deine Forschung mit einer politischen Forderung verknüpft? Oder zumindest mit der Hoffnung auf politische Veränderung?

Ja! Zum Beispiel war ich sehr glücklich, im Zuge des Schattenberichts zur UN-Behindertenrechtskonvention Kontakt zum „Netzwerk Artikel 3“ zu haben und den Bericht der Bundesregierung mit zu kommentieren. Wenn man das Wissen, das man über die Jahre angehäuft hat, an diesem Ort platzieren kann, führt dies hoffentlich dazu, dass der Bundesregierung ihr Bericht von der UNO um die Ohren gehauen wird!

Handelt es sich bei den Disability Studies um eine politische Wissenschaft?

Ja! Wissenschaft und Forschung haben einen Auftrag, das sollte für eine Soziologin klar sein… Ich sehe das als eine engagierte Wissenschaft. Mich interessiert ein Verstehen der Gegenwart durch die Geschichte. Im Idealfall will ich die Gegenwart kommentieren und auch intervenieren. Ich denke, dass Forschung an sich immer interveniert.

Was ist dein Bezug zur Behindertenbewegung?

Ein Bezug besteht im Kontakt mit dem Netzwerk Artikel 3. Ich tausche mich mit aktiven Kolleginnen aus, zum Beispiel Swantje Köbsell, die an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin Professorin für Disability Studies ist.

Deine Professur gehört zum Institut für Rehabilitationswissenschaften. Deine Dissertation ist eine umfassende Kritik am Sonderschulwesen und an den Techniken der Sonderpädagogik. Wie lebt es sich mit diesem Widerspruch?

Das ist gar nicht so einfach… Meine disziplinären Bezüge sind die Erziehungs- , Sozial- und Kulturwissenschaften und die Gender Studies. Wobei man den Rehabilitationswissenschaften schon zugute halten muss, dass sie eine solche
Stelle geschaffen hat. Das ist allerdings auch kritisch zu sehen, weil es eine Gefahr der Vereinnahmung gibt. Die Professur wird an so einem Ort immer eine Reibungsfläche bieten. Ich setze außerdem große Hoffnungen in die jüngere Generation, die einen kritischen Blick auf Wissenschaft hat.

Ich kann mir vorstellen, dass das Studium der Sonderpädagogik wenig Spielraum lässt für eine kritische Auseinandersetzung. Ich habe eher das Gefühl, dass es eine starke Identifikation mit dem Fach gibt.

Vereinzelt gibt es Personen, die die Vorannahmen der Profession dekonstruieren. Ich halte oft Vorträge vor Sonderschullehrerinnen und habe die Erfahrung gemacht, dass junge Sonderschullehrer unglaublich überzeugt sind, das Richtige zu tun. Erst ältere Sonderpädagoginnen sehen die Profession dann wieder kritisch.

Ein großer Teil des Bachelor-Studiums besteht in der Legitimation der eigenen Profession.

Der beste Weg für die Sonderpädagogik wäre, in die Erziehungswissenschaft zurückzukehren und dort feministische, interkulturelle und behinderungsspezifische Themen stark zu machen.

Was sind deine wissenschaftlichen Vorhaben?

Ich möchte mich dem Thema Ökonomien der Behinderung zuwenden: Welche Bewertungen finden in der Ökonomie statt? Meine These lautet, dass das segregierende Bildungswesen in Deutschland den Ausschluss vorbereitet, durch den man so geschwächt wird, dass man auf dem Arbeitsmarkt nicht bestehen kann. Ansonsten interessieren mich Fragen um kulturelle Repräsentation und die Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Mir ist wichtig, meine Inhalte mit politischen Zielen zu verknüpfen und dabei im Dialog zu bleiben!

Interview: Julia Weidenbach

(1) Als wise person bezeichnet Goffman in dem soziologischen Klassiker „Stigma“, Personen, die einem stigmatisierten Individuum in besonderer Weise nahe und verbunden sind. Zum Beispiel „Die Tochter des Strafentlassenen, die Eltern des Krüppels, der Freund des Blinden und die Familie des Henkers“ Goffman, E.(1975): Stigma, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 42 f.

 

Julia Weidenbach

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