Offen Krüppel sein

Ich bin offen Krüppel. „Ja echt jetzt“, hör ich meinen inneren Zwischenrufer sagen. „Mal wieder beweist du deine unglaubliche Fähigkeit, das Offensichtliche zu begreifen.“
Na, aber da gibt’s nen großen Unterschied zwischen offensichtlich Krüppelsein und offen Krüppelsein. Man kann so offensichtlich Krüppel sein wie Stephen Hawking mit Kopf ab und immer noch nicht offen Krüppel sein.

Das mein ich damit: Denk mal an queere Leute, Lesben und Schwule. Denk mal an Liberace. Der war so verdammt offensichtlich schwul, aber der war nicht schwul.
Wir werden dann Krüppel, wenn wir uns entscheiden, uns nicht mehr dafür zu entschuldigen, Krüppel zu sein. Das ist der Tag unserer Wiedergeburt. Ich schätze mal, das ist dasselbe, wie wenn man offen irgendwas anderes wird, offen schwul oder offen
fett oder offen arm oder so.

Eine riesige Last fällt von uns ab, wenn wir offen Krüppel werden. Aber von da an ist auch nicht alles Sonnenschein und Regenbogen. Wenn die Leute sauer werden auf unser offenes Krüppelsein, dann ist es niemals das Krüppelsein, auf das sie sauer werden. Es ist die Offenheit. Wenn wir schon unser Krüppelsein anderen aufzwingen, dann sollten wir das wenigstens diskret und ein bisschen zerknirscht tun. Wenigstens so tun, als dass wenn wir anders könnten, wir auch jemand anderes wären. Nochmal — ich denke, es ist dasselbe, wenn man schwul oder arm, fett oder was auch immer ist.

Ich wurde offen Krüppel vor ungefähr dreissig Jahren, als ich mit dem Sport der Busblockade anfing. Dieser Sport war in anderen Städten von Krüppeln erfunden worden, die angekotzt waren davon, dass sie einfach wie jeder andere den ÖPNV nutzen wollten, aber die Busse nicht zugänglich waren. Also rollten sie ihre Rollis auf die Strasse und blockierten die Busse, bis die Mächtigen weichgekocht waren und sie die Busse zugänglich machten.

Es war aufregend für mich, die Geschichten über die Bus-Blockierer-Brigaden zu hören, aber ich hab damit politisch ganz schön auf dicke Hose gemacht. Ich war auf 180 und wollte loslegen, aber ich hatte keine Möglichkeit, es rauszulassen. Zum Glück gab‘s in meiner Stadt noch andere Krüppel, die unter derselben Krankheit litten, und wir fanden uns in unserer eigenen Bus-Blockaden-Gang.

Ich hab denselben Kick vom Bus Blockieren gekriegt den andere vom Wildjagen kriegen. Ich haute auf dem Bus rum, johlte und brüllte. Dummerweise konnte ich den Bus nicht mit nach Hause nehmen und mir an die Wand nageln.

Je älter und verkrüppelter ich werde, desto offener bin ich Krüppel. Aber das ist natürlich ein niemals endender Prozess. Ich habe noch nicht völlig den Punkt erreicht, an dem es mir einfach scheißegal ist, als soziale Unannehmlichkeit zu gelten. Ich hoffe, ich lebe lang genug, um diesen Tag zu erleben.

Übersetzung: Rebecca Maskos

Mike Ervin schreibt Texte, Bücher und Theaterstücke in Chicago. Er lebt mit 24 Stunden Assistenz und blogt über seinen Aktivisten-Alltag auf seinem Blog „Smart Ass Cripple“ („Klugscheißer-Krüppel“) smartasscripple.blogspot.de
Dies ist eine Übersetzung seines Blogtextes „Openly Crippled“.

Mike Ervin

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