Seit vierzig Jahren etwa ist die Integration behinderter Menschen – zumindest im reichen Westen – weit vorangekommen. Im öffentlichen Vehrkehrsraum gibt es akustische Leitsysteme für Blinde. Züge führen Rollstuhlabteile. Barrierefreie Wohnungen werden gebaut. In Kirchen und Gerichten finden sich Induktionsschleifen für Hörgeschädigte. Wer Assistenz benötigt, um am Arbeitsprozess teilzunehmen, bekommt sie finanziert. Es gibt eine große Auswahl an Hilfsmitteln: vom elektrischen Rollstuhl bis hin zu Geräten, die es Leuten, die sich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen können, ermöglichen mit ihrer Umgebung zu kommunizieren.
Überall begegnet man behinderten Mitbürgern: im Betrieb, im Supermarkt, in der S-Bahn und im Kino. Trotzdem scheint die Kluft zu ihnen tiefer geworden zu sein. Intensivere Kontakte zu Behinderten finden selten statt. Normalität im Umgang fällt irgendwie schwer. Behinderung ist das Schreckensszenario für die eigene Biografie. Föten, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie behindert auf die Welt kommen, dürfen weit über die gesetzliche Frist hinaus abgetrieben werden, manche bis zum letzten Tag der Schwangerschaft. In Patientenverfügungen fantasieren viele, im Falle einer schweren Behinderung sich euthanasieren zu lassen.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass dem Körper eine immer bedeutendere Rolle zugewiesen wird. Er steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit unserer Kultur.
Das war schon von jeher so. Im Zentrum der christlichen Botschaft befindet sich die Fleischwerdung des Wortes, die Menschwerdung Gottes. In Jesus offenbart sich die Liebe Gottes zur Welt. Liebe ist ohne Körper nicht möglich. So wird der Leib Christi seit Jahrhunderten in Prozessionen durch die Welt getragen. Die Erlösung wird sinnfällig in der Kommunion, der Teilhabe an Fleisch und Blut des Gottessohnes.
Doch der Körper stand nur für die eine Seite der Wirklichkeit. Heute hingegen gilt er weithin als die alleinige Realität. Die Welt ist nunmehr ausschließlich Materie. Im naturwissenschaftlichen Sinn kommen Geist oder Seele nur als materielle Hervorbringungen in Geltung. Denken und Fühlen kann nur als Hirnfunktion beschrieben werden. Der Mensch ist Körper. Identität und Individualität sind daran festgemacht.
Der dementsprechende Kult hat sich ganz von allein herausgebildet.
Seine Prozessionen sind die Paraden. Auf ihnen wird der neue Gegenstand der Verehrung der Welt gezeigt: der makellose, jugendlich schöne Körper. Ob zur Loveparade, zum Karneval der Kulturen oder zum CSD – auf den Wagen sitzen, stehen oder tanzen die Objekte des Begehrens. Die Gemeinde am Straßenrand kann sie begaffen und bewundern und sich freuen, wenn ein Blick auf sie herabfällt, eine Geste, gar eine Berührung möglich ist. Die Gläubigen können in Verzückung fallen. Die Bässe und Beats bewegen die Göttlichen oben wie die Irdischen auf Straßenniveau. Die gleichen Rhythmen und Klänge durchzucken alle. Im Tanz ereignet sich Hingabe – an die Lust, ans Jetzt, ans Leben.
Eine noch tiefere Hingabe kennt nur der Sport. Die höchste aller Überhöhungen findet statt, wenn der Idealleib über das menschliche Maß hinauswächst und enorme, an Wunder grenzende Leistungen vorweist. Die Gesänge in den Stadien aus tausenden von Kehlen, das Flehen der Fans, die Schreie beim Entscheidungstor sind die Choräle, Liturgien und Gebete des neuen Glaubens. Ganze Nationen verfallen bei Weltmeisterschaften in Taumel oder Agonie.
Neben den großen Zeremonien und Festen hat sich auch eine Alltagsfrömmigkeit ausgebildet. Es gibt eine Fülle von Vorschriften, Regeln und Exerzitien. Die richtige Sportgruppe oder Tanzausbildung schon für die Kleinsten gehören genauso dazu wie Diäten oder Trainingsprogramme. Jeder mittelalterliche Folterknecht wäre erstaunt, wenn er sähe, was heute Menschen in Fitnessstudios, Schönheitsfarmen oder beim plastischen Chirurgen freiwillig tun oder mit sich machen lassen.
Mit Fernsehen und Internet hat die mediale Wirklichkeit immer umfassender unsere Realität besetzt. Die Bilder der Idealkörper sind somit allgegenwärtig. Die Leiblichkeit der Kollegen, Nachbarn oder Partner, vor allem aber die eigene Leiblichkeit, werden daran gemessen. Keiner kann mit seinem Körper zufrieden sein. „Wir sind allzumal Sünder“ ist in der neuen Religion angekommen.
Haben bisher die jungen Männer gefragt, wie sie mit dem Körper, der ihnen gegeben ist, an die Frauen herankommen, die ihnen gefallen, so fragen sie jetzt, wie sie diesen Körper verändern können, damit er den Frauen gefällt, an die sie herankommen wollen. Kaum einer, kaum eine erreicht das Ideal. Aber das Prinzip Hoffnung trägt alle: Klamotten, Frisuren, Fitness, Wellness.
Alle sind Sünder und bedürfen der Erlösung – fast alle. Einige können sich nicht erlösen. Die Behinderten fallen offensichtlich von vornherein heraus: Dämonen der Neuzeit.
Wie alle Dämonen hassen sie sich selbst, weil sie in ihrem Wesen das Göttliche verneinen. Die Ablehnung ihrer Körperlichkeit ist bei Behinderten weit verbreitet. So mancher identifiziert sich eher mit seinem metallicblauen Ultraleichtrollstuhl als mit den dünnen Stockbeinchen, die in Klumpfüßen enden. Ihr Körper schließt sie von den höchsten Werten aus: die Superkarriere, der Adventuresurvivaltrip, die absolute hemmungslose Lust. Wenn er berührt wird, dann nicht aus Freude oder von Begehren getrieben, sondern zur Feststellung und Behebung von Defekten.
Doch ganz so hoffnungslos ist die Lage nicht. Integration wäre der richtige Weg. Was in anderen Bereichen in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, muß auch im ästhetischen Bereich geschehen. Behinderte müssen mehr noch als bisher in der Öffentlichkeit und in den Medien präsent sein. Und sie müssen es schaffen, als Personen und Typen wahrgenommen zu werden und dürfen sich nicht darauf reduzieren lassen, was die anderen an ihnen am meisten fasziniert: das verzogene Gesicht, die leeren Augenhöhlen, der Buckel. Stephen Hawkins, der geniale Physiker ist ein gutes Beispiel dafür. Zum einen ist er ein bedeutender Wissenschafler, obwohl er schwerstbehindert ist. Wenn er in den Medien erscheint, erscheinen Rollstuhl, Kommunikationsgerät und Assistent wie selbstverständlich mit. Andererseits gibt es kaum einen Bericht über ihn, der sich mit seiner Theorie auseinandersetzt. Alle starren gebannt auf seine Behinderung. Ohne sie wäre er lediglich ein Forscher von Weltrang. Mit ihr ist er ein Popstar. Ähnlich verhält es sich mit Thomas Quasthoff. Er wird zwar mehr über seine Sangeskunst wahrgenommen als Hawkins über die Physik, aber ohne seine extrem von der Norm abweichende Gestalt wäre er nie zu dem jetzigen Ruhm gelangt. Aber auch in niederen Gefilden gibt es Ansätze die hoffen lassen. Viele Vorabendserien und Soaps haben auch behinderte Figuren. Choreographen arbeiten mit behinderten Tänzern. Maler, Schauspieler, Sänger kommen durch Unfälle oder Krankheiten zu Behinderungen und bleiben trotzdem in der Öffentlichkeit wie Jörg Immendorff, Peter Ustinov oder Christopher Reeves.
Behinderte Schüler, die auf einer integrativen Schule lernten, berichten häufig, dass ihre Integration bei aller Normalität mit der erwachenden Geschlechtlichkeit endete. Mit Beginn der Pubertät gehörten sie nicht mehr dazu. Als Sexualpartner wurden sie gemieden. Wer sich noch mit ihnen abgab, galt als uncool.
In den 60er und 70er Jahren wurden Behinderte fast ausschließlich in Sonderschulen mit Internaten unterrichtet. Diese Schulheime waren Ghettos, abgeschlossene Welten, die meist auf dem Lande oder gar im Wald angesiedelt waren. Sonderschüler berichten, dass sie mit dem Sex nicht mehr Probleme hatten als andere nichtbehinderte Jugendliche. Schwerbehinderte Mädchen und Jungen hatten auch erotische Kontakte mit leicht- oder gar nicht behinderten Schülern, die ebenfalls im Internat unterrichtet wurden. Durch die Abgeschlossenheit und das häufige Vorkommen war Behinderung zur visuellen Normalität geworden. Damit wurde sie auch zur ästhetischen, gar zur erotischen Norm. Die Abgeschlossenheit läßt sich glücklicherweise nicht mehr herstellen. Doch mehr und mehr Behinderte im öffentlichen Bild, die sich ihres Körpers nicht schämen, liegen im Trend.