Ein liturgischer Wechselgesang aus dem Mittelalter hat die Worte: „Media
vita in morte sumus“, was Luther später mit „Mitten im Leben wir sind vom Tod umfangen“ übersetzt. Wenn es so etwas wie eine Allgegenwart gibt, dann ist es die des Todes. Das Leben – eine Insel inmitten des Todesmeeres. Jede Existenz kann sofort nach ihrem Beginn wieder enden. Doch selbst wenn es einige Jahrzehnte währt, das Ende ist garantiert.
Trotz seiner Allgegenwart – der Tod ist aus unserem Alltag verschwunden. Er flimmert zwar als Nachricht oder Actionfilm permanent über die Bildschirme, aber echte Leichen und Sterben zum Anfassen kommen nicht mehr vor. In anderen Weltgegenden ist es noch so, wie es auch bei uns vor einigen Generationen war:
der Großvater starb zu Hause. Seine Angehörigen pflegten ihn in der Phase
seiner Gebrechlichkeit. Sie saßen am Sterbebett, sprachen ihm Trost zu oder bereinigten noch Rechnungen, die mit ihm offen standen. Hatte sein Herz aufgehört zu schlagen, falteten sie seine Hände, hielten die Uhr an und verhängten in allen Zimmern die Spiegel. Ein Verstorbener wurde im Haus aufgebahrt und Nachbarn und Verwandte hielten Totenwache oder kamen zur Kondolenz vorbei. Nach
ein paar Tagen (im Hochsommer war das olfaktorisch nicht immer vorteilhaft) wurde die Leiche zum Friedhof getragen und bestattet.
Jedes Kind bekam auf diese Art mit, wie das mit dem Sterben geht. Es war ihm auch ganz selbstverständlich, dass der knusprige Sonntagsbraten am Freitag noch der bunte Hahn war, der in der Blüte seiner Kraft über den Hof stolziert war und dem man am Samstag den Kopf abhacken, rupfen und ausweiden musste, um ihn nun genüsslich zu verzehren. Mit nicht weniger Genuss und Hingabe hatte dieser
Vogel zu Lebzeiten schillernde Käfer, träge Würmer und die in der Knochenpresse
zermalmten Reste seiner Geschwister zu sich genommen.
Uns Heutigen ist das Sterben peinlich geworden. Wir halten es möglichst fern
von uns. Opa stirbt in der Klinik oder im Pflegeheim. Man sieht ihn dann noch einmal zur Beisetzungsfeier hübsch zurechtgemacht hinter einer Scheibe. Immer öfter gibt es nicht einmal mehr einen Abschied. Die anonyme Bestattung im Gemeinschaftsgrab ist wesentlich kostengünstiger.
Die Hähnchenschenkel werden im Supermarkt gekauft und die, zu deren Leibern sie gehörten, hatten nicht die Spur einer Chance, ein buntes Federkleid
auszubilden, weil sie in der industriellen Mast spätestens 35 Tage nach
dem Schlupf geschlachtet werden.
Nichts ist uns gewisser als der Tod und trotzdem leben wir, als wären wir unsterblich. In unserer Selbstwahrnehmung geht es mit uns immer so weiter wie bisher. Mitten im Leben stehen, ist cool. Aber mitten im Leben vom Tod umfangen…? Der Tod ist so absolutund das passt einfach nicht zur selbstbestimmten, toleranten, demokratischen Grundhaltung.Die Alten hatten es gut. Für die war der Tod nicht das absolute Ende. Sie wussten besser als wir, dass sie sterben würden, aber darüber hinaus ging es weiter. Sie hatten ein Jenseits.
Heine beginnt sein „Deutschland, ein Wintermärchen“ mit dem Entsagungslied
eines Harfenmädchens, dem „Eiapopeia vom Himmel“, und setzt dem entgegen:
„Ein neues Lied, ein bessres Lied, oh Freunde, will ich euch dichten. Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.“. Er postuliert damit den Glücksanspruch des Einzelnen und dessen Verwirklichung – die Grundlage der modernen Gesellschaft und des neuen Selbstgefühls.
Seine kraftvollen Verse sind ein wichtiger Teil des Projekts, an dem unsere Kultur
seit mindestens 200 Jahren hart arbeitet: die Abschaffung des Jenseits’. Auf das
Hier und Heute kommt es an. Glück und Erfüllung müssen erreichbar sein. Ging es bisher um die Rettung der Seele, so geht es jetzt um die Rettung des Körpers. Das Fatale ist nur, dass das Seelenheil auch über den Tod hinaus verlagert werden konnte; ja sogar musste. Der Körper aber ist im Tod immer rettungslos verloren.
In fast allen Religionen gilt das Sterben als ein Durchgang, eine Transformation
in einen anderen Zustand. Dabei wird lediglich der Leib zurückgelassen. Wir tendieren eher dazu, den Tod als Schlusspunkt zu sehen. Es gibt ja kein Jenseits, in
das wir gehen könnten.
Entwicklungspsychologisch gesehen, ist es sehr wichtig, dass wir sterben lernen.
Dabei geht es nicht nur um das körperliche Ende. Der Übergang in neue Lebensphasen ist von Krisen geprägt. Sterben können heißt loslassen können und
den Verlust akzeptieren, konstatieren, am Ende zu sein. Die Fähigkeit zur Trauer
ist gefragt und die Bereitschaft zur Hingabe an das Unbekannte. Wer über das
Festhalten und Beharren nicht hinauskommt, wird zum neurotischen Charakter.
Wer nicht sterben kann, kann auch nicht leben. Nicht für umsonst heißt der Orgasmus im Französischen „le petit morte“ (der kleine Tod). Hingeben ist immer
auch aufgeben.
Es ist ein großes Fließen, das uns durchs Leben trägt. Wir können ein wenig steuern, aber die Richtung lässt sich nicht ändern. Wer sich diesem Fluss überlassen kann, kommt zum Höhepunkt, der immer auch schon auf den Endpunkt verweist. Ist es wirklich der Endpunkt? Jeder Fluss mündet ins Meer. Eigentlich hat
dieses die höheren Wellen. Vielleicht ist ja der Orgasmus nicht nur der kleine Tod, sondern der Tod der große Orgasmus. Ein schöner Trost – oder?